OPEN CONTENT
Wissen als öffentliches Gut, frei zugänglich für jeden - diese Idee gewinnt immer mehr Anhänger. Doch die Kritik verstummt nicht.
Noch vor zwei Jahrzehnten war die Welt so viel einfacher: Werke hatten einen Schöpfer, und der wurde - in aller Regel - für seine Leistung bezahlt. Das nannte man Urheberrecht oder englisch "Copyright", und alle waren zufrieden. Heute leben wir im Zeitalter der Privatkopie - ein Mausklick genügt, und Zeitschriftenartikel, Musikstücke, ja ganze Bücher flattern auf unseren Rechner. Das System "Copy und Paste" ist einfach, geht schnell und kostet nichts. Und genau das ist das Problem: Wie sollen die Kreativen, die Wissenschaftler, die Autoren in dieser Welt noch zu ihrem Geld kommen?
Für die Verfechter des freien Wissens stellt sich diese Frage nicht mehr. Sie sagen: Das globale Wissen ist ein öffentliches Gut. Informationen, Ideen und Programme müssen grundsätzlich jedem frei und kostenlos zur Verfügung stehen. Sie nennen das "Open Content", offene Inhalte.
Ein Beispiel: Das Betriebssystem Linux. Es war 1991 eines der ersten Programme, das seine Software im Internet frei anbot. Bis heute kann Linux weltweit kostenlos heruntergeladen oder per CD-Rom auf dem Rechner installiert werden. Es ist eine "Open Source", eine offene Quelle, die mit der so genannten "GNU General Public License", kurz GPL arbeitet: Sie garantiert nicht nur, dass die Nutzer das Programm beliebig kopieren dürfen, sondern auch, dass besonders Neugierige den Quellcode des Betriebssystems einsehen können. Damit können sie neue Funktionen hinzufügen oder Programmierfehler bereinigen - eine Möglichkeit, von der Tüftler bereits regen Gebrauch gemacht haben.
Doch nicht nur Programme können frei sein, auch Ideen, Texte, Bilder, Videos und Töne sollen nach Ansicht der "Open Content"-Gemeinde beliebig verbreitet und vervielfältigt werden können. Schon der frühere amerikanische Präsident Thomas Jefferson schrieb im Jahr 1813: "Es wäre verrückt, wenn eine Idee, die flüchtige Hervorbringung eines einzelnen Gehirns, aus ungewissem Naturrecht heraus als exklusives und dauerhaftes Eigentum bezeichnet werden würde. … Ideen besitzt ein Individuum ja nur solange, wie es sie für sich behält. Sobald sie ausgesprochen sind, gehören sie jedermann."
Ohne es zu wissen, formulierte Jefferson damit vor 200 Jahren eine Art Präambel für die Werke der kontinuierlich wachsenden Online-Gemeinschaft, deren Plattformen heute zu den gefragtesten Adressen im Netz gehören: Wikipedia etwa, die Online-Enzyklopädie, an der jeder mitschreiben kann. Oder das Videoportal YouTube, auf dem Millionen von Nutzern weltweit Clips einstellen und kostenlos herunterladen können. Auch die Foto-Gemeinschaft Flickr gehört dazu oder das Projekt Gutenberg, die große Internetbibliothek mit inzwischen über 20.000 frei zugänglichen Werken. Für diese Portale und andere gilt: Was sonst strikt verboten ist, wird hier ausdrücklich erlaubt, Verlinken, Kopieren, Verschicken, Verändern - die Urheber verdienen nichts mehr daran, sie verzichten sogar freiwillig auf Einnahmen. Geistiges Eigentum? Diesen Begriff kennt das Mitmach-Web 2.0 kaum noch.
Einer der Gurus der "Open Content"-Bewegung ist Lawrence Lessig, Professor für Recht an der Universität Stanford. Er hat 2001 "Creative Commons" (CC) gegründet, eine gemeinnützige Initiative, die im Internet Standard-Lizenzverträge veröffentlicht, mit denen Autoren der Öffentlichkeit Nutzungsrechte an ihren Werken einräumen können. Lessig will das Urheberrecht modifizieren.
Sein Konzept geht davon aus, dass Wissenschaftler und Kreative selbst das Bedürfnis haben, Urheberrechte an ihren Werken aufzuweichen, etwa weil sie eine Verbreitung im Internet sogar wünschen. Mit den "Creative Commons" können sie bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen sie ihre Werke verwerten wollen. Lassen sie eine kommerzielle Nutzung zu? Gestatten sie eine Weitergabe der Inhalte, vielleicht aber unter der Bedingung, dass diese dabei nicht verändert werden? Der Urheber allein entscheidet. Eine allgemeingültige Regel wie den deutschen Universalsatz "Alle Rechte vorbehalten" gibt es in der Creative Commons-Welt nicht mehr. Der Nutzer sieht am Rande eines Werkes ein Icon, das ihm anzeigt, was er mit den Inhalten tun darf und was nicht - ähnlich der Waschanleitung in einem Kleidungsstück.
Lessig sieht im starren Urheberrecht eine Blockade für Kreativität und Innovationsfähigkeit, es sei unfähig, die Potenziale des Internets auszuschöpfen: "Die Leute", erklärte er kürzlich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", "gehen mit den digitalen Technologien anders um, sie konsumieren nicht nur, sie teilen ihre Kreativität mit anderen. Diese Möglichkeiten werden von einem perfekten ,Digital Rights Management' zerstört." Seine Empfehlung: "Wir sollten kein Copyright-System aufbauen, das zugunsten eines speziellen Geschäftsmodells, das im 20. Jahrhundert zufällig dominant war, eine viel wertvollere Form des kulturellen Ausdrucks opfert."
Der Juraprofessor geht noch weiter: Wissen, wie die Forschung über Malariatherapien, müsse sich so weit und schnell wie möglich verbreiten. Es müsse "an jeder Universität der Welt frei verfügbar sein".
Forderungen, die bei traditionellen Wissenschaftsverlagen Widerstände wecken: Immerhin geht es hier um ihre Existenz, um ihre Berechtigung, auf dem globalen, multimedialen Wissensmarkt mitzumischen - und an der Produktivität und Schaffenskraft anderer zu verdienen. Die Verlage sagen: Unsere Experten sind wichtige Instanzen für die Qualitätskontrolle, ein Garant für die Verlässlichkeit von Informationen. Man braucht uns. Doch das ist inzwischen unter Wissenschaftlern, auch den deutschen, längst keine goldene Regel mehr. Die "offenen Inhalte" setzen sich auch bei ihnen immer mehr durch, das magische Wort heißt "Open Access", der freie Zugang zu wissenschaftlichen Informationen.
Mittlerweile gibt es über 1.000 Zeitschriften im Netz, die Fachliteratur und Forschungsmaterialien vollkommen frei anbieten. Darunter so etablierte deutsche (englischsprachige) Magazine wie das "New Journal of Physics" oder das "Economics E-Journal". Was Jahrzehnte lang unvorstellbar war, tun sie heute im Internet: Sie unterlaufen die in Deutschland üblichen Publikationsformen.
Bisher lief es so: Fachverlage und wissenschaftliche Gesellschaften veröffentlichen Aufsätze und Forschungsergebnisse der Wissenschaftler und verdienen ihr Geld mit dem Verkauf der Zeitschriften-Abonnements oder dem kostenpflichtigen Zugang zu einzelnen elektronischen Artikeln. Die Forscher selbst haben davon finanziell meist nichts, oft zahlen sie sogar Druckzuschüsse aus eigener Tasche.
Das breite, interessierte Publikum bleibt außen vor: Lehrer, Ärzte, Politiker - sie alle, schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einem kürzlich veröffentlichten "Open Access"-Dossier, könnten "ein legitimes Interesse haben, sich ein Bild vom aktuellen Stand der Wissenschaft zu machen". Dem stünden aber oft finanzielle Hürden im Weg. Allein die Bibliotheken, schätzen die Verfasser, zahlen mehrere tausend Euro im Jahr für die oft sündhaft teuren Fachzeitschriften-Abos. Und auch Studenten und andere Leser berappen gut und gerne zwischen 20 und 30 Euro für den Online-Zugang zu einem einzigen Artikel. Das Dossier sieht die Ursache derart horrender Preise in den "Besonderheiten des Wissenschaftsbetriebs": Teilweise hätten sich "monopolartige Strukturen auf dem Markt für wissenschaftliche Information etabliert".
Die "Open Access"-Befürworter halten dies für eine Farce: Die Forschungen würden schließlich meist öffentlich finanziert - Wissenschaftler forschten in staatlichem Auftrag an staatlichen Universitäten, bezahlt von Steuergeldern. Doch damit nicht genug: Weil der Staat auch an der Finanzierung der Bibliotheken beteiligt ist, zahlt er indirekt noch einmal Geld an die Verlage, um die Aufsätze der Forscher zu erwerben. Und für diese Verlage wiederum arbeiten staatlich alimentierte Wissenschaftler als externe Gutachter. Grotesk, meinen sie. Am Ende zahlt die öffentliche Hand doppelt und dreifach für ein- und dieselbe wissenschaftliche Arbeit - aber die Masse von Menschen, die dieses Veröffentlichungsprozedere letztlich bezahlt, hat von all dem: nichts. Sie bekommt die Arbeiten der Forscher praktisch nie zu Gesicht.
Inzwischen haben offenbar auch einige Bildungspolitiker im Bundestag das Problem erkannt und angeregt, das Urheberrecht weiter zu reformieren: Sie wollen prüfen, wie "Open Access" auch in Deutschland durchgesetzt werden kann, um mehr Menschen einen Zugang zu einem "mit öffentlichen Mitteln produziertem Wissen" zu ermöglichen (siehe Artikel auf Seite 6).
Im Streit um offene Inhalte und geistiges Eigentum tun sich tiefe Gräben auf: Es geht dabei nicht nur um ideologische Fragen, sondern auch um Existenzen. Knallhart. Millionen Menschen weltweit müssen von dem, was sie schaffen, auch leben können - Internet hin oder her.
Die Wissenschaftler haben dabei noch das geringste Problem: Sie arbeiten in aller Regel an staatlichen Hochschulen oder privaten Instituten und verdienen ihr Festgehalt als Professoren oder wissenschaftliche Mitarbeiter auch dann, wenn ihre Arbeiten im Netz offen herumschwirren. Anders sieht es aus bei Komponisten, Dichtern, Software-Entwicklern, Fotografen… Was machen sie in einer Welt, in der jeder Geistesblitz offen und frei verfügbar sein soll? Eine bislang ungeklärte Frage, über die noch viel zu diskutieren sein wird. Johanna Metz
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.