KINDERSCHUTZ
Rechte der Kinder sollen im Grundgesetz festgeschrieben werden. Die Union ist skeptisch.
Lea-Sophie wurde nur fünf Jahre alt. Am Ende wog sie noch 7,4 Kilogramm. Die Obduktion hat ergeben, dass das kleine Mädchen über Monate hinweg nicht ausreichend ernährt worden war - ihre Eltern hatten Lea-Sophie schlichtweg verhungern lassen. Ein grauenhafter Fall, ein furchtbarer Fall. Doch das grauenhafteste und furchtbarste ist: es ist kein Einzelfall. In Plauen wurden unlängst die drei toten Babys einer 28-Jährigen gefunden, in Berlin lag ein verhungerter Säugling neben seiner an einer Überdosis Heroin gestorbenen Mutter. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer von verwahrlosten und misshandelten Kindern.
Derartige Zustände rufen nun die Politik auf den Plan. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fordert "eine Kultur des Hinsehens" und Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) spricht sich nach langer Skepsis nun auch für verpflichtende Vorsorge-Untersuchungen für Kinder aus. Einer Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz hatte die siebenfache Mutter schon seit längerem das Wort geredet. Doch hilft das? Jürgen Borchert, Richter am hessischen Landessozialgericht und Mitautor des "Kinderreports 2007", ist skeptisch. "Solange Urteile aus Karlsruhe nicht respektiert werden, braucht man nicht darüber nachzudenken, neue Rechte ins Grundgesetz aufzunehmen, von denen man weiß, dass sie nicht exekutiert werden können", sagte er dieser Zeitung. Borchert bezieht sich dabei auf Bundesverfassungsgerichtsurteile, denen zufolge Familien bei den Sozialabgaben entlastet werden müssten. Doch die Politik setze die Urteile nicht um, kritisiert er.
Während der Bundestagsdebatte zum Kinderschutz am 13. Dezember, bei der ein Koalitionsantrag ( 16/4604 ) angenommen wurde, wogegen zwei Oppositionsanträge (FDP, 16/4415 ), Grüne, 16/3024 ) keine Mehrheit fanden, waren die Befürworter einer Grundgesetzänderung dennoch klar in der Überzahl. Miriam Gruß (FDP), die Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestages, erhofft sich davon eine Signalwirkung, mit der eine "positive Kettenreaktion in Gang gesetzt werden könne". Bisher sei zu wenig getan worden, so Gruß. Im März habe man zuletzt eine Debatte zu Kinderrechten geführt. "Seitdem sind wir keinen Schritt weiter gekommen", stellte die FDP-Politikerin ernüchtert fest. Für "sehr sinnvoll" hält Marlene Rupprecht (SPD) die Verankerung des Kinderschutzes in der Verfassung. Es sei wichtig, klar auszudrücken, dass Kinder besondere Ansprüche haben, um gut heranwachsen zu können. Rupprecht plädierte außerdem für regelmäßige ärztliche Untersuchungen von Kindern. Allerdings könne der Bund keine Pflichtvorsorgeuntersuchungen vorschreiben. Das sei eine Angelegenheit der Länder, so Rupprecht.
Der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU, Johannes Singhammer, warnte davor, alle Eltern unter Generalverdacht zu stellen. Die meisten kümmerten sich liebevoll um ihre Kinder, so Singhammer. Er könne sich vorstellen, Vorsorgeuntersuchungen zu einem "maßgeschneiderten Konzept der Früherkennung" auszuweiten - verbunden mit Sanktionen. Beispielsweise könne die vollständige Zahlung des Elterngeldes von einem lückenlosen Besuch der Früherkennungsuntersuchungen abhängig gemacht werden. Einer Verfassungsänderung stehe er hingegen skeptisch gegenüber. Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen ließen oder misshandeln würden, "blicken nicht in das Grundgesetz", so Singhammer. Mit dieser Argumentation, entgegnete ihm Diana Golze (Die Linke), könne man aber eigentlich auch das Strafgesetzbuch abschaffen.
Ekin Deligöz (Grüne) verteidigte die Kinder- und Jugendhilfe. Die Angriffe der letzten Zeit "waren überzogen", denn dort werde "gute Arbeit" geleistet. Die Grünen-Politikerin lehnt die von Singhammer vorgeschlagenen Sanktionen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen ab. Ein erzwungener Gang zum Kinderarzt zerstöre das Vertrauen, sagte Deligöz, die sich für eine Grundgesetzänderung aussprach.
Einen Zusammenhang zwischen Armut und Vernachlässigung thematisierten die Abgeordneten in ihren Redebeiträgen nicht. Das tat Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, im Parlaments-TV. Es gebe "keinen Automatismus, dass Armut zu Vernachlässigung führt", aber es habe damit zu tun, so Krüger. Es sei wichtig, dass Eltern durch eigene Erwerbsarbeit ein ausreichendes Einkommen erzielen könnten, das sie aus materiellen Nöten befreie, sagte Krüger und schlug damit einen Bogen zu gesetzlichen Mindestlöhnen, die es in anderen, nicht durch Kinderarmut geprägten europäischen Ländern schon gebe. Auch für Jürgen Borchert sind "Jobs das A und O". Es sei ein entscheidender Unterschied, ob Familien von eigenem, selbst erwirtschaftetem Geld leben könnten oder auf Transferleistungen angewiesen seien. Die erste Gruppe sei aufstiegsorientiert, gesundheitsorientiert, bildungsorientiert - bei der zweiten Gruppe finde man all das nicht. Daher könne es auch dem eigenen Nachwuchs nicht vermittelt werden. "An diesem Punkt wird Armut erblich", sagte Borchert, der auch die aktuelle Steuer- und Abgabenpolitik als familienfeindlich und damit kinderfeindlich bewertet. Noch immer seien Eltern um ein Vielfaches höher belastet als Kinderlose. Wenn dann mit "gönnerhafter Geste" durch die Politiker das Kindergeld erhöht werde, so Borchert, sei das bei weitem nicht ausreichend.