EIN TAG AN DER DEUTSCHEN BÖRSE
Vor den Händlern sind die Journalisten da. Gegen Feierabend kommen die spätentschlossenen Kleinanleger. Eine Reportage.
Schon im Morgengrauen haben die Händler ihren Stand aufgebaut. Vis-à-vis der Börse steht der Metzger mit seiner Würstchen- und Schnitzelbraterei. Einträchtig daneben der Weinhändler aus dem Rheingau. Jeden Freitag treffen Händler, die echte Waren anbieten, auf solche, die ihre Waren - die Aktien - virtuell über den Computer an- und verkaufen.
Auch in der Börse sind die Lichter schon an. Das Wachpersonal wechselt gerade, die nächste Schicht übernimmt, schaut auf die Bildschirme, die den Börsenvorplatz über-wachen. Die Putzmannschaft dreht noch die letzten Runden, bevor es richtig losgeht. Die Eingangshalle blitzt schon. Die Börse ist im Gebäude der Industrie- und Handelskammer Frankfurt untergebracht. Von außen ein beeindruckendes, klassizistisches Bauwerk. Inschriften belegen, wie alt die Handelstraditionen in Frankfurt schon sind. Kein ungebetener Besucher darf in die Börse rein. Seit dem 11. September sind die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verschärft worden. Die Leibesvisitationen und Taschenkontrollen direkt nach den Anschlägen wurden aber nach einigen Wochen abgeschafft. Dafür hat die Börse aber den Eingang so gestaltet, dass man nur mit gültigem Ausweis reinkommen kann.
Über elektronische Drehtüren gelangt man aufs Börsenparkett. Raumschiff Enterprise lässt grüßen: Man stellt sich mitten in die Glaskapsel und wird in den Börsensaal gespuckt. Dort geht es futuristisch weiter. Der ganze Handelssaal ist vollgestellt mit runden, neonweiß beleuchteten Inseln, im Händlerjargon auch "Kommandozentralen" genannt. Darin sitzen die Skontroführer, diejenigen, die Käufer und Verkäufer zusammenführen, die die Börsenkurse stellen. Jeder von ihnen ist für andere Aktien zuständig. Noch sind die Plätze leer, ihre Arbeit beginnt erst gegen halb acht.
Die Börse hat erst im Januar völlig umgebaut, damit die Kulisse für die Medien stimmt, damit es voller aussieht. Seit der Computer den Handel bestimmt, seit etwa sieben Jahren, verschwanden immer mehr Händler in den Sälen der Banken, das Parkett verwaiste. Zumindest optisch ist jetzt wieder einiges los. Noch ist aber nicht alles perfekt: Die Galerie über dem Parkett wird gerade renoviert, die Wände sind weiß abgehängt. Bauarbeiter waren die ganze Nacht beschäftigt, die letzten Hammerschläge verklingen gerade. Tagsüber darf der Betrieb nicht gestört werden.
Lange vor den Händlern sind schon die Journalisten da. Die Radiohörer werden als erste mit News von der Börse versorgt. Wegen des Umbaus wird jede noch so kleine Nische als Arbeitsplatz genutzt. Man muss sich einen Weg bahnen zu Peter Kochanski, der das Börsengeschehen für die ARD beobachtet. Er muss zuerst die Vorgaben für den Börsentag sichten, also das, was in Amerika und in Asien geschehen ist. Das beeinflusst natürlich auch das Geschehen am Frankfurter Handelsplatz. Von außen kommen heute positive Impulse: "Die Signale stehen auf grün, weil US-Notenbankchef Ben Bernanke angedeutet hat, dass die Leitzinsen in den USA gesenkt werden. Die Finanzkrise hat offenbar in den USA erhebliche Schleifspuren gezogen, deshalb ist es nötig, die Zinsen weiter nach unten zu schrauben", spricht Peter Kochanski ins Mikrofon.
Die Finanzkrise bereitet Dirk Müller von der Wertpapierhandelsbank ICF Kursmakler richtige Bauchschmerzen. Er fürchtet deswegen große Verwerfungen. "Ich bin davon überzeugt, dass das Thema sowohl von der Politik als auch von Wirtschaftslenkern dramatisch unterschätzt wird. Da kommt eine ganz große Nummer auf uns zu." Dirk Müller hat in einer der Kommandozentralen Platz genommen. Er ist regelrecht verschanzt hinter sechs Bildschirmen, die Kurse, Informationen und vor allem Kauforders beinhalten. Ständig gehen die Blicke von einem zum anderen Bildschirm. Nichts darf ihm entgehen, alles kann kursentscheidend sein und damit auch relevant für seine Kunden. Auch er ist positiv gestimmt für diesen letzten Börsentag im Monat. Seine Begründung: "Vor zwei Tagen gab es hier eine Trendwende nach oben. Der ganze Markt war aber bärisch gestimmt. Die meisten Marktteilnehmer waren short, wurden kalt erwischt und mussten sich eindecken." Übersetzt heißt das: Die meisten Marktteilnehmer hatten auf fallende Kurse gewettet, haben also Aktien verkauft. Als sich der Wind aber ausgehend von den USA drehte, mussten sie sich ganz schnell wieder mit Aktien eindecken, um den Zug nicht zu verpassen.
Dirk Müller hat noch die alten Zeiten erlebt, als sich die Händler auf dem Börsenparkett drängelten, sich gegenseitig anschrien und die Kurse noch auf Zuruf gemacht wurden. "Das war besser, da konnte man wenigstens mal Adrenalin ablassen." Heute ist er allein mit seinen Computern, was aber nicht weniger Hektik bedeutet. "Gerade jetzt geht es sehr hektisch zu. Auf ein steiles Hoch folgt ein ebenso steiles Tief. Es sind große Player am Markt, die die Kurse stark bewegen." Diese Player kommen derzeit vor allem aus China und dem arabischen Raum. Denn nach dem Sinkflug des Dollars müssen sie sich einträglichere Anlagen suchen. Da bietet sich derzeit der Euroraum an. Diese heftigen Schwankungen sind aber nach Meinung des Börsenhändlers alles andere als gesund. "Man muss gerade jetzt richtig starke Nerven haben, weil durch die Krise viele Dinge nicht mehr vorhersehbar sind, die Akteure oft das Gegenteil von dem machen, was man glaubt."
Die Börsenglocke wird laut geläutet, eine Reminiszenz an alte Zeiten. Alle Plätze sind besetzt, das eifrige Murmeln verstummt augenblicklich. Jetzt hört man nur noch das Klackern der Börsentafel, die die Bewegung der Dax-Kurve anzeigt. Der erste Dax-Kurs erscheint auf der Börsentafel: der wichtigste deutsche Index legt auf Anhieb dreißig Punkte zu. Die Prognosen stimmten also.
Heute drängeln sich viele dunkel gekleidete Herren auf dem Parkett. Der Grund ist ein Börsengang, einer der letzten in diesem Jahr. Ein Händler ruft den ersten Kurs aus. Alle applaudieren, denn der Kurs liegt über dem Ausgabepreis. Das Unternehmen hat einen guten Tag erwischt. Wenn die Stimmung im Umfeld trüb ist, kann das auch ein Börsendebüt beeinflussen. In dieser letzten Woche im Monat wollen noch andere Unternehmen Geld an der Börse einsammeln. Sie haben die Pläne wegen großer Unsicherheiten aber verschoben. Heute sind alle in guter Stimmung, die Händler wirken gelöst, der Dax nimmt stetig seinen Weg nach oben. Hält das? Da schüttelt der Händler den Kopf. "Genauso schnell wie wir oben sind, können wir auch wieder unten sein. Die Nervosität ist immens."
Einige Händler gehen schnell raus, um sich was zu essen zu besorgen. Viel Zeit bleibt nicht, denn diese Arbeit verlangt ständige Anwesenheit. Sie brauchen aber nicht weit zu gehen. Die Köstlichkeiten vom Schillermarkt sind direkt vor der Haustür. Die Schlange vor dem Schnitzelstand ist trotz der Kälte lang. Drinnen haben jetzt die Fernsehsender Position bezogen, die Börsenreporter bringen sich in Stellung für die Mittagssendungen. Einträchtig nebeneinander: private und öffentliche Sender, man kennt sich schon lange. Ganz nebenbei bekommt man auch noch Tipps per Experten-Interview: Es gibt bessere Einstiegskurse, heißt es da. Man solle weiter vorsichtig sein, Geld im Moment eher in Festgeldanlagen stecken, auf sinkende Kurse warten und erst dann einsteigen. Die Chefvolkswirtin der Hessisch-Thüringischen Landesbank, Gertrud Traud, wird von Radioreporter Peter Kochanski zu Zinssenkungen befragt. Sie glaubt an eine weitere Absenkung in den USA und kann sich sogar eine Zinssenkung bei der Europäischen Zentralbank vorstellen, als "konzertierte Aktion", damit auch der Euro nicht zu stark gegenüber dem Dollar aufwertet. Damit liegt die Expertin aber daneben. Die Europäische Zentralbank belässt eine Woche später die Zinsen auf dem alten Niveau, zu groß erscheinen ihr die Inflationsgefahren.
Auch die Experten wissen nicht alles, sie gucken ebenfalls in die Glaskugel. Denn wie sich die Akteure an den Finanzmärkten verhalten, ist selten genau vorhersehbar. Das macht es besonders spannend. Peter Kochanski vom Hessischen Rundfunk möchte seinen Arbeitsplatz nicht tauschen: "Ein sehr spannender Arbeitsplatz, seit zwei Jahrzehnten mache ich das schon. Die Finanzmärkte sind eine Art Melting Pot. All das, was in der Welt passiert, fließt in die Börse ein." Die Börsen-Journalisten müssten bei dieser Informationsfülle einen gehörigen Vorsprung haben. Stefan Wolff, der heute die "Börse im Ersten" vor der Tagesschau präsentiert, lacht: "Wenn man alles genau vorhersagen könnte, müsste man sich am Abend nicht vor die Kamera stellen." Für ihn ist diese Krisenzeit nichts Besonderes. Immer wieder kommt es zu ähnlichen Symptomen: Nervosität und Ausverkaufsstimmung. Zumindest so lange, bis man gelernt hat, mit der Krise umzugehen. Ihn treibt eher um, dass sich die Deutschen zu wenig für Aktien interessieren. "Das Interesse müsste größer sein, allein schon wegen der Vorsorge fürs Alter." Seine größte Herausforderung besteht deshalb darin, die Börse so spannend wie möglich zu machen: "Man muss vereinfachen, hinterfragen und die Geschichten dahinter erzählen."
Seit dem Sommer muss die Finanzkrise erklärt werden, die ihren Ausgang in den USA nahm. Schwachen Schuldnern wurden Kredite angeboten, die sie jetzt nicht mehr zurückzahlen können. Diese so genannten Subprime-Kredite wurden in Päckchen verpackt und rund um den Erdball zum Kauf angeboten, damit die Risiken breit gestreut werden. Die Renditeversprechen waren hoch - eine Zeitlang funktionierte auch alles prächtig, bis die Immobilienpreise in den USA absackten und diese Kredite unverkäuflich wurden. Zu spät merkten die meisten Banken, welche Risiken sie jetzt in den Büchern hatten. Besonders betroffen in Deutschland: die SachsenLB und die Mittelstandsbank IKB. Sie müssen Milliarden abschreiben. Die IKB ist im M-Dax gelistet. Der Kurs ist seit der Krise um 80 Prozent abgerutscht. Auch an diesem Tag schwankt das Papier heftig hin und her. Bankaktien stehen im Mittelpunkt, sie profitieren am meisten von der guten Stimmung. Aber auch der Stahlhändler ThyssenKrupp kann sich ein vorderes Plätzchen im Dax erobern. Spekulationen auf eine Erhöhung der Gewinnprognose sorgen für Nachfrage. Der Dax ist bis zum frühen Nachmittag um knapp hundert Punkte nach oben geklettert. Wenn keine schlechten Nachrichten aus den USA kommen, dürfte es an diesem letzten Handelstag der Woche und des Monats zu einem Happy End kommen.
Ab 14 Uhr mischen sich die Amerikaner ins Börsengeschehen ein, die ersten vorbörslichen Kurse kommen rein. Um Punkt halb vier unserer Zeit geht es dann auch in den USA richtig los. Dann beginnen die Händler wieder schneller zu tippen. An manchen Tagen gibt es wichtige Konjunkturdaten, etwa vom Arbeitsmarkt. Fallen sie besser oder schlechter aus als erwartet? Das ist für Börsianer das Maß aller Dinge, und das bestimmt auch die Kurse. Heute beschäftigen sich Händler und Investoren diesseits und jenseits des großen Teichs vorwiegend mit der möglichen Zinssenkung in den USA. Die Wall Street reagiert ebenfalls positiv auf diese Aussichten. Denn sinkende Zinsen können die Konjunktur stabilisieren und zu steigenden Unternehmensgewinnen führen. Die Wetten auf die Zukunft laufen also. Der Dax bekommt nochmal einen Schub von der Wall Street, das Barometer rückt ein weiteres Stückchen nach oben. "Heute ist es im Vergleich zu den vergangenen Tagen richtig ruhig, der Aufwärtstrend ist stabil, wir sehen kein nervöses Hin- und Hergezappel", meint Aktienhändler Dirk Müller.
17.30 Uhr: Die Schlussauktionen beginnen, um 17.40 Uhr ist der Computerhandel zu Ende. Kurz davor können sich die Kurse nochmal ganz schön bewegen. Der Trend bleibt heute aber gleich. Ende gut - alles gut? Zumindest an diesem Tag und in dieser Woche: Der Dax legt eine beeindruckende Rallye hin, zieht um eineinhalb Prozent an auf 7.870 Punkte. Über die Woche gesehen hat der Dax sogar mehr als drei Prozent gutgemacht. Die Journalisten können positive Nachrichten verkünden. Das macht den Job angenehmer, so ARD-Reporter Stefan Wolff: "Die jetzige Zeit ist schön, denn trotz der Krise haben wir eine starke Konjunktur, und zum ersten Mal seit langem kann man gleichzeitig steigende Aktienkurse und sinkende Arbeitslosenzahlen verkünden."
Für die meisten Händler ist der Tag jetzt gelaufen, die Plätze hinter den Computer-Bildschirmen leeren sich. Der Weg führt so manchen direkt zum Weinstand, das kann man sich nach einem so erfolgreichen Börsentag auch mal gönnen. Doch auch die Marktleute draußen packen so langsam ihre Siebensachen ein. In der Börse geht es aber noch weiter - die Lichter verlöschen erst spät. Denn noch bis 20 Uhr wird gehandelt, aber nur noch auf dem Parkett. Dann wird der so genannte Late-Dax erstellt. Vor allem Kleinanleger nutzen die Stunden nach Dienstsschluss, um schnell Aktien zu kaufen oder zu verkaufen. Der Parketthandel macht aber nur einen geringen Teil des gesamten Handelsvolumens der Deutschen Börse aus. Die Händler sehen natürlich viele Vorteile. Nicht alles könne der Computer machen, sagt Dirk Müller von der Wertpapierhandelsbank ICF Kursmakler: "Je komplizierter die Order ist, desto mehr komme ich als Mensch ins Spiel und entscheide dann, wie der Kurs werden soll."
Punkt 20 Uhr: Die Glocke wird wieder geläutet, Zeichen für den endgültigen Handelsschluss. Übrig bleiben jetzt nur die Radiojournalisten, die noch auf die letzten Kurse in den USA warten. Wie es in New York an der Wall Street zu Ende geht, das bestimmt dann wieder das Handelsgeschehen am nächsten Tag.
Jetzt trudeln auch wieder die Bauarbeiter ein für ihre Nachtschicht. Die Arbeiten auf der Börsengalerie müssen so schnell wie möglich beendet werden, damit die Kulisse für die Fernsehbilder stimmt.
Die Autorin ist Finanzjournalistin in Frankfurt am Main.