AKTIEN
Warum für die meisten Bundesbürger Sicherheit wichtiger ist als Rendite
Das fünfte Jahr in Folge haben die Besitzer deutscher Aktien Gewinne eingestrichen, allein der Deutsche Aktienindex erzielte 2007 einen Jahresgewinn von satten 22 Prozent. Auf Sicht von 50 Jahren ergibt sich eine durchschnittliche jährliche Aktienrendite von acht Prozent. Davon streichen den Löwenanteil in Deutschland institutionelle Anleger wie Pensionskassen oder Versicherer ein. Dagegen gehen die meisten Privatanleger leer aus, weil sie bei Themen wie finanzieller Sicherheit oder langfristigem Vermögensaufbau an Immobilien, Lebensversicherungen oder Staatsanleihen denken, keinesfalls aber an Aktien. Das hat auch historische Gründe. Schließlich finanzierten die Deutschen den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend über Bankkredite. Sie vermehrten bei den Banken sowie über Bausparverträge, Immobilien oder eigene Betriebe ihr Vermögen. Dagegen entwickelten sich die Börse und der Kapitalmarkt erst in den 90er-Jahren stärker. Bis heute rangiert Deutschland sowohl beim Aktienanteil an der privaten Altersvorsorge als auch beim relativen Anteil des Aktienkapitals an der Unternehmensfinanzierung hinter anderen Industrieländern wie Großbritannien, Frankreich, den USA oder Schweden.
Dabei sah es schon einmal so aus, als ob sich die deutsche Aktienkultur rasant ändern könnte. Mit der Einführung der T-Aktie Ende der 90er-Jahre kauften breite Bevölkerungskreise Aktien. Auch die erste große Prüfung bestanden viele Neuaktionäre. Trotz der Turbulenzen an den Börsen während der Asien- und Russlandkrise hielten sie ihre Papiere. Dafür wurden sie belohnt, die zwischenzeitlichen Kursverluste von 50 Prozent waren schnell aufgeholt.
Warum verdorrte die Aktienkultur in Deutschland trotzdem? Ursache waren hohe Verluste der Kleinanleger beim Absturz der Börsen nach der Jahrtausendwende. Als die Kurse fielen, klammerten sich viele an ihren Aktien fest und verloren deswegen viel Geld. Die Scheu vor dem Verkauf von Aktien mit einem Verlust hat viel mit Psychologie zu tun. "Anleger erleben Kursverluste zwei bis dreimal stärker als Kursgewinne in gleicher Höhe", sagt Joachim Goldberg, der sich als Geschäftsführer bei Cognitrend mit dem psychologischen Verhalten der Finanzmarktakteure beschäftigt. Enttäuscht sind bis heute vor allem viele Kleinanleger, die sich die T-Aktie in ihr Depot gelegt hatten. Mit markigen Worten hatte der Schauspieler Manfred Krug in Werbespots die Aktie angepriesen. Statt der erhofften Kursgewinne erlebten die Anleger einen Kursabsturz. Zwar hat sich Krug mittlerweile bei den Anlegern entschuldigt, gleichwohl haben viele Bürger ihr Interesse an Aktien verloren. So gibt es mittlerweile etwa zwei Millionen Aktionäre weniger in Deutschland. 2007 haben die deutschen Anleger laut einer Studie der Dresdner Bank sogar netto Geld aus der Aktienanlage abgezogen, obwohl sie insgesamt mehr Geld sparten.
Allerdings ist die Flucht aus Aktien in festverzinsliche Wertpapiere nur die halbe Geschichte. Schließlich zählten zu der letztgenannten Kategorie auch Zertifikate. Dabei handelt es sich zwar rechtlich betrachtet um Schuldverschreibungen, doch dahinter verbergen sich oft Aktien- oder andere riskantere Anlagen. Das Bild vom risikoscheuen deutschen Anleger stimmt somit nur teilweise.
Börsenumsätze, Mittelzuflüsse und Statistiken über Aktionärszahlen belegen, dass die Anleger in den vergangenen Jahren einige Fehler begangen haben. Viele kauften auf dem Höhepunkt der Aktieneuphorie groß am Neuen Markt ein, teils auf Pump. Viele dieser unbedarften Anleger bezahlten dafür einen hohen Preis. "Die Deutschen haben von der Aktie Wunderdinge erwartet und die Warnungen in den Wind geschlagen", sagt rückblickend Franz-Josef Leven, Experte beim Deutschen Aktieninstitut. Dabei spielten seiner Meinung nach die geringen wirtschaftlichen Kenntnisse vieler Bürger eine entscheidende Rolle. "Viele Menschen wissen nicht, was eine Aktie ist", sagt Goldberg. Verbessern ließe sich das wirtschaftliche Wissen auf lange Sicht nach Ansicht von Wirtschaftsvertretern durch die flächendeckende Einführung eines Schulfachs Ökonomie. Dies gibt es bereits in Bayern und Thüringen. So war der typische Käufer beim Aufschwung der Börsen nach der geplatzten Neue-Markt-Blase der Großinvestor aus dem Ausland, vor allem Käufer aus den USA und dem Mittleren Osten bedienten sich bei deutschen Aktien. Dank ihrer Nachfrage konnte sich der Dax-Kurs in den vergangenen Jahren mehr als Vervierfachen. Die Tatsache allein, dass die Anleger in Deutschland schlechte Erfahrungen während der größten Baisse in Europa gemacht hatten, greift aber zu kurz. Schließlich bezahlten auch Anleger in anderen Ländern teuer. Schwer wiegt hier zu Lande auch der Umgang mit Begriffen wie Volksaktie, Risiko und Sicherheit. Wie in wohl keinem anderen Land priesen Politiker schon in den 60er-Jahren vermeintliche Volksaktien wie die des Stahlkonzerns Preussag, des Autobauers VW oder des Energiekonzerns Veba als eine sichere Anlageform. In den Neunzigern wurden dann die Papiere der privatisierten Deutschen Telekom und der Deutschen Post als Volksaktien angepriesen - erst jüngst machte die SPD den Vorschlag, einen Teil einer privatisierten Deutschen Bahn als stimmrechtslose Volksaktien an die Bürger zu verkaufen.
Bei solchen Börsengängen haben stets viele Menschen erstmals in ihrem Leben Aktien gekauft - und anschließend Schiffbruch erlitten. Zuverlässig an solchen Volksaktien war allein, dass sie regelmäßig Wert vernichteten. Damit ging viel Vertrauen verloren, was bei vielen Sparern bis heute nachwirkt. Schon die Bezeichnung Volksaktie gilt manchem Experten als Augenwischerei. "Mit dem Begriff Volksaktie werden sehr wahrscheinlich falsche Erwartungen geweckt, die zwangsläufig zu Enttäuschungen führen müssen und damit weder dem Volk noch der Aktie nachhaltig nutzen", warnt Leven. Noch verhängnisvoller ist die Verknüpfung von Sicherheit und Wertzuwachs auf der einen sowie Risiko und Verlust auf der anderen Seite. Oft dominiert die Ansicht, dass ein langsamer, aber stetiger Wertzuwachs mehr Sicherheit bedeutet als wenn sich Vermögen rasant vermehrt. So fand das Marktforschungsunternehmen GfK vor kurzem in einer Umfrage heraus, dass für 80 Prozent der Deutschen die Sicherheit beim Sparen mehr zählt als die Rendite.
Die Idee dahinter: Je stärker eine Anlageform im Wert schwankt, desto unsicherer und damit auch schlechter ist sie. Ein Sparbuch mit einer jährlichen Rendite von einem Prozent, aber ohne Schwankungen, genießt in der Öffentlichkeit noch immer einen besseren Ruf als eine Aktie mit einer über einen langen Zeitraum durchschnittlichen Rendite von acht Prozent. Allerdings hat der vorsichtige Umgang mit Aktien in Deutschland manch einen Anleger auch vor einem Desaster bewahrt, welches beispielsweise Mitarbeiter des amerikanischen Energiekonzerns Enron erlebten, weil ihre Altersvorsorge fast komplett in Aktien des eigenen Konzerns bestanden. Nach der Insolvenz standen viele dieser Belegschaftsaktionäre mit leeren Händen da. Solche Vorfälle dürften manch einen deutschen Politiker darin bestärken, dass ein Sparer mit staatlich geförderten Produkten für seine Altersrente zu keinem Zeitpunkt in die Verlustzone rutschen darf. Dabei benötigen die meisten Menschen ihr Geld aus der für die Rente gebildeten Kapitalanlage erst in einigen Jahrzehnten. Die eigentlich für solch eine Anlageform prädestinierte Aktie hat unter solchen restriktiven Prämissen das Nachsehen. Durch die Höhe der Abgeltungsteuer sehen Aktienlobbyisten zudem die Attraktivität von Aktien deutlich geschmälert.
Die Anleger bezahlen die höhere Sicherheit mit geringeren Renditen. So führt eine zwei Prozentpunkte höhere Rendite über einen Zeitraum von 25 Jahren zu einem um zwei Drittel höheren Endvermögen. Und eine ansprechende Rendite benötigen die Menschen in Deutschland zunehmend. Wie ernst die Lage ist, zeigte vor wenigen Wochen eine Studie der Rentenversicherung und des Bundessozialministeriums. Danach müssen sich die Deutschen auf deutlich niedrigere Renten einstellen. Ein 50-jähriger Mann im Westen wird im Schnitt nur noch 88 Prozent des Alterseinkommens eines 60-jährigen haben - 1.596 statt 1.700 Euro. Wenn nichts geschehe, dann drohe größere Altersarmut, warnt Herbert Rische, Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund. Ein Drittel der Deutschen spart nach Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung gar nicht - wohl deshalb, weil das Einkommen es nicht erlaubt. Allerdings raten Anlageexperten keinesfalls, alles Geld in Aktien zu stecken. Notwendig sei eine breite Streuung der Anlagen, sagt Leven. Er rät Kleinsparern mit Beträgen bis zu hundert Euro, erst einmal in Sparformen mit geringeren Schwankungen zu investieren. Dazu zählt er Anleihen oder Rentenfonds.
Erst wenn beim Vermögensaufbau die Vor- und Nachteile von Risiko, Schwankungen und Sicherheit sauber abgewogen werden, erhält die Aktie auch in Deutschland dort ihre Chance, wo sie am stärksten ist: als Anlageform zur langfristigen Vermögensentwicklung. Mehr Mut zum Aktienkauf erwarten Experten vor allem durch eine bessere wirtschaftliche Allgemeinbildung. "Nur so lassen sich langfristig Fortschritte erzielen", sagt Leven.