Wut gilt oft als Charakterschwäche, als unkontrolliert und verwerflich. Doch für Sevim Da`?gdelen, migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, ist Wut der Motor für ihr politisches Engagement: "Nur mit dem Verstand an etwas heranzugehen, reicht nicht. Man muss auch wütend sein, um etwas verändern zu wollen. Ohne diese Energie geht es nicht." Gut, dass die junge Politikerin ganz offensichtlich davon reichlich hat, denn ihr Ziel - eine Gesellschaft, die Zuwanderer wirklich integriert - ist ihrer Meinung nach noch lange nicht erreicht. Falsch findet sie daher, dass in Deutschland lebende Ausländer, wie etwa Türken, im Gegensatz zu Italienern, die aus dem EU-Ausland stammen, nicht einmal das kommunale Wahlrecht haben. "Das ist eine unerträgliche Diskriminierung", sagt die 32-Jährige und streicht sich energisch eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht.
Wut - bei der Abgeordneten basiert dieses Gefühl vor allem auf der Erfahrung von Gewalt: Sie besucht gerade die Oberstufe an einem Gymnasium in Duisburg-Marxloh, als Neonazis in Mölln und Solingen Brandanschläge auf Wohnhäuser türkischer Familien verüben. Acht Menschen sterben dabei. Für die damals 17-Jährige ein Schock. Schließlich ist sie selbst Tochter türkischer Einwanderer: In Duisburg-Walsum 1975 als drittes von sechs Kindern geboren, wächst Sevim Da`?gdelen in Bruckhausen auf, dem Stadtteil, den Günter Wallraff in seinem Buch "Ganz unten" so eindrücklich beschrieben hat. Die Anschläge empfindet sie deshalb als persönliche Bedrohung: "Es war entsetzlich. Aber für mich auch eine Herausforderung, den Kampf aufzunehmen", sagt Sevim Da`?gdelen.
Wut verwandelt sie in Aktion: Sie will nicht hilflos zusehen, sondern etwas verändern, deshalb schließt sie sich der lokalen Antifa an, engagiert sich in der Schülervertretung. Schon früh hat sie nicht nur ein Gefühl für Ungerechtigkeit, sondern auch ein ausgeprägtes soziales Gewissen: In der Grundschule gilt Sevim Da`?gdelen als Anführerin einer Clique, die sich für Schwächere einsetzt. "Ich wollte so sein wie die 'Rote Zora' und ihre Bande", erinnert sie sich lachend. Als Gymnasiastin beginnt sie dann, sich für verschiedene politische Vereine zu interessieren. "Auf meinem Weg zur Schule bin ich immer an ihren Büros vorbeigekommen - Jugendverbände, Sozialisten, linke Kulturvereine", erzählt Da`?gdelen, "die habe ich mir dann alle mal angeschaut." 1991 wird sie schließlich in der Gewerkschaft ver.di aktiv und tritt 1993 der Jugendorganisation der "Föderation Demokratischer Arbeitervereine" bei. Ist dieses Engagement auch Ausdruck der Suche nach einer wirklichen Heimat? "Die Frage, wo ich hingehöre, war früher tatsächlich schwierig für mich", gibt Da`?gdelen zu. Heute hat sie sich aber entschieden: "Ich bin hier zuhause - und hier mische ich mich auch politisch ein." Deshalb ärgert sie sich auch, immer wieder auf ihren Migrationshintergrund festgelegt zu werden. Auch die Frage nach nationaler Identität hält sie nämlich für kontraproduktiv: "Wenn man den Menschen helfen würde, hier klar zu kommen, würde sich das Problem schnell erübrigen", glaubt sie. Deshalb plädiert sie für eine Migrationspolitik, die die sozialen Aspekte ins Zentrum rückt, nicht die Herkunft der Menschen. Denn dass sich viele Zuwanderer in Deutschland nicht wohl fühlten, läge doch vor allem an ihrer oft miserablen sozialen Situation, findet Da`?gdelen.
Es seien die Strukturen, die Migranten diskriminierten und ihnen den Zugang zur Bildung verbauten. Ihr selbst wurde der Weg jedoch geebnet: Eltern und Lehrer förderten sie, als einzige Schülerin ihrer Grundschulklasse mit Migrationshintergrund besuchte sie ein Gymnasium. Danach folgten Jurastudium in Marburg und Köln, Auslandsemester im australischen Adelaide, dann die politische Arbeit, schließlich 2005 das Bundestagsmandat. Eine erfolgreiche Integrationsgeschichte, die die Politikerin nutzen will: "Ich möchte anderen Migranten Hoffnung machen - sie anstiften, sich gemeinsam mit den Deutschen für eine soziale Gesellschaft einzusetzen. Schließlich geht es nicht nur um gleiche Rechte, sondern um ein gutes Leben für alle."