STammZellgesetz
Das Naturrecht ist in der Krise. Doch ob die Interessenethik diese Lücke füllen kann, ist sehr ungewiss
Alternativen, die an Dramatik nicht zu überbieten sind, stehen seit dem vergangenen Donnerstag auf der Agenda des Bundestages. Nimmt man die konkurrierenden Anträge und Entwürfe beim Wort, sind in der Debatte um Revision oder Bekräftigung des Stammzellgesetzes die Kernfragen unseres Zusammenlebens berührt: Was ist der Mensch, was darf er hoffen, soll er tun, muss er lassen? Nach welchen Kriterien, Haltungen, Tugenden lässt sich eine verantwortete von einer verantwortungslosen Politik unterscheiden? Wer bildet jene Instanz, vor der sich alles Handeln recht- fertigen muss?
Mit der ersten Lesung am 14. Februar begann wieder jenes Ringen, das mit der Verabschiedung des Stammzellgesetzes 2002 nur vorübergehend entschieden war. Damals wurde beschlossen, "die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen grundsätzlich zu verbieten", sie nur ausnahmsweise zuzulassen: bei "hochrangigen Forschungszielen" und sofern die Zellen aus menschlichen Embryonen stammen, die im Ausland vor dem 1. Januar 2002 getötet wurden. Sechs Jahre zogen ins Land, 25 Forscherteams erhielten die Erlaubnis zu einem Import. Das Fingerhakeln zwischen Forschungslobbyisten und Forschungsskeptikern wuchs sich zu einem Freistilringen aus. Wie sollte es anders sein, ist doch jede Seite davon überzeugt, so und nur so dem Fortschritt eine Gasse bahnen zu können, ohne des Menschen Würde zu verletzen.
Wer die Antragstexte liest, kann den Eindruck gewinnen, diese seien in radikal verschiedenen Denk- und Lebenswelten entstanden. Schon die Deutung des zugrunde liegenden Stammzellgesetzes ist umstritten. Im Antrag der FDP-Forschungspolitikerin Ulrike Flach, die auf den Stichtag ganz verzichten will, heißt es: Sinn und Zweck des Gesetzes blieben erhalten, wenn der Staat die "menschenfreundliche Forschung mit standardisierten und reinen Stammzelllinien" ermögliche. Zu dieser Schlussfolgerung, die in einiger Spannung steht zum Wortlaut des Gesetzes, das ja ein Verbot ausspricht, gelangen die Abgeordneten, indem sie - wie ihre Gegner - mit der "Bewahrung menschlichen Lebens" und dem "Schutz der Menschenwürde" argumentieren. Die Pointe aber besteht darin, dass mit dem menschlichen Leben ausschließlich das Dasein geborener Angehöriger der Gattung Homo sapiens gemeint ist und mit der Würde ausschließlich die Würde der gleichfalls geborenen potentiellen Patienten. Die Bewahrung vorgeburtlichen Lebens und die Würde der Embryonen ist hier keine erwähnenswerte Größe. Man schreibt sich auf die Fahnen, einen "größtmöglichen Erkenntnisgewinn in der Stammzellforschung" anzustreben, um so "das Leiden schwer kranker Menschen lindern zu können".
Die Forderung nach einer faktischen Aufgabe des Stammzellgesetzes beruht auf zwei sehr klaren Grundannahmen: dass die Würde des Menschen erst mit der Geburt beginne und dass die staatliche Schutzpflicht sich nur auf geborene Menschen erstrecke. Auf diametral anderen Grundüberzeugungen basiert die gegenteilige Maximalforderung, eingebracht von dem CDU-Politiker Hubert Hüppe. Er spricht ausdrücklich vom "embryonalen Menschen", den zu töten das Grundgesetz verbiete: "Menschliches Leben beginnt nach gesicherter biologischer Erkenntnis und gesetzlich fundiert im Embryonenschutzgesetz mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Die Tötung menschlicher Embryonen ist ethisch nicht vertretbar und von der Verfassung missbilligt." Ergänzend heißt es bei Hüppe, die Würde des Menschen sei einer Abwägung nicht zugänglich. Weil also der Mensch bereits in seinem embryonalen Stadium Träger von Menschenwürde und unhintergehbarem Lebensrecht sei, kann es für Hüppe und dessen Unterstützer kein Motiv geben, das die Tötung von Embryonen rechtfertigt.
Der weltanschauliche Hintergrund einer solchen in sich schlüssigen Argumentationsweise offenbart sich in der Formulierung, "die Zugehörigkeit zur Menschheit und die damit verbundene Schutzwürdigkeit" seien nicht davon abhängig, "in welchem Umfeld das Leben beginnt". Der Satz ist typisch für ein naturrechtliches Denken, wie es sich in der jüdisch-christlichen Aufklärung zur Achsenzeit vorbereitete: Qua seiner Gattung, weil er Mensch ist, als Mensch entstand, als Mensch vergehen wird, ragt der Homo sapiens aus der Schöpfung hervor, ist er mit einer spezifischen Würde begabt, die ihm weder genommen werden kann noch verliehen werden muss, und diese natürliche Sonderstellung verpflichtet ihn zu einem Leben gemäß einem bestimmten Tugendkatalog. Dessen prägnanteste Kurzfassung stammt von dem Philosophen Hans Jonas: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden."
Das Naturrecht, gleichermaßen bei Thomas von Aquin wie bei Immanuel Kant zu finden, ist deshalb unvereinbar mit all jenen Techniken, die sich um eine zweite, verbesserte Schöpfung bemühen, mit Klonierungs- und Embryonenversuchen, mit neuronalem und genetischem Enhancement, mit Bodytuning mittels Implantaten oder Pharmakologie. Bei solchen Experimenten wird in die Natur des Menschen eingegriffen, ohne dass es medizinisch notwendig oder erwiesenermaßen therapeutisch sinnvoll wäre.
Der Gegenspieler des Naturrechts ist die Interessenethik, besonders in der utilitaristischen Zuspitzung. Ihr höchster Wert ist trotz zuweilen anderslautender Rhetorik nicht die Menschenwürde, sondern das Interesse. David Hume und Thomas Hobbes sind wichtige Ahnherren dieser Denkrichtung. Hume verfasste einen "Traktat über die menschliche Natur" (1739/40) und verabschiedete sich vom Begriff einer persönlichen Identität, die über das zufällige Nacheinander unverknüpfter Vorstellungen hinausgeht. Hobbes wiederum schrieb bereits im 16. Jahrhundert, es gebe nichts, was in einem absoluten Sinn gut oder schlecht sei. Von ihm stammt auch der neuerdings von Robert Spaemann mehrfach kritisch aufgenommenen Satz, eine Sache erkennen bedeute zu wissen, was man mit ihr anstellen könne, wenn man sie habe. Diese Tendenz weg vom Prinzipiellen hin zum Faktischen, weg von der moralischen Rede hin zum verwertenden Tun bildet das weltanschauliche Fundament der Stichtagsgegner.
Damit eröffnet sich das Panorama einer anderen Art von Aufklärung: Der Mensch ist Mensch, weil und sofern er Interessen hat, diese begründen, ausdrücken und gegebenenfalls durchsetzen kann. Im Geburtsland dieser Denkschule, im Vereinigten Königreich, sind die Umbauarbeiten an der Natur weit fortgeschritten: Klonschaf "Dolly" kam in Schottland zur Welt, in England werden Eizellenspenden für die Klonforschung finanziell gefördert, ebendort sollen demnächst Mensch-Tier-Chimären durch das Einfügen von Tierzellen in menschliche Embryonen gezüchtet werden.
Das Naturrecht ist in der Krise, weil seine religiöse Ursprungsgeschichte es für manche Ohren problematisch macht und weil die Eingriffsmöglichkeiten des Menschen in seine eigene Natur exponentiell gewachsen sind. Natur, ließe sich sagen, ist oft genau das, was der Mensch aus ihr macht, ist Material für Projekte mannigfacher Art, nicht Ausgangspunkt und Grenze seiner Weltbemeisterung. Ob die Interessenethik die Lücke füllen kann, ist ungewiss: Richtig wäre dann grundsätzlich ein Verhalten, das die Interessen möglichst aller Betroffenen berücksichtigt. Schwer zu beantworten ist jedoch die Frage, wer über die Interessen nichtartikulationsfähiger Betroffener entscheidet. Ein Interesse wird gemeinhin dann valide, wenn es geäußert wird. Ein Interesse am eigenen Dasein etwa kann man getrost auch den Sprachlosen und Unmündigen unterstellen, den Embryonen offenbar nicht unbedingt. Und wie verhält es sich mit dem Interesse an einem ganz bestimmten So-Sein, das aus der Betrachterperspektive vielleicht attraktiver scheint als der gegenwärtige Zustand? Wer definiert dann stellvertretend die Interessen? Im Fall der Embryonenforschung, aber auch der Sterbehilfe oder der Klonierung sind solche Fragen nicht nur philosophische Kopfnüsse.
Zwischen den Polen Utilitarismus und Naturrecht bewegen sich jene Kompromissanträge, die den Stichtag bekräftigen oder ihn einmal verschieben wollen. Letztere Variante bedeutet indes laut deren Initiatoren keineswegs, dass die Einmaligkeit garantiert werden könne. Steht uns also, unbeschadet des Ausgangs im aktuellen Schlagabtausch, regelmäßig eine solche Debatte bevor?
Jede Änderung, die den Status quo verändert, wird die Gefechtslage kaum befrieden. Die unterlegene Seite wird entweder die Menschenwürde und damit die naturrechtliche Fundierung der Verfassung endgültig verraten oder aber einen forschungsfeindlichen Sonderweg zementiert sehen.
Es könnte Zeit sein für einen Perspektivenwechsel: An vielen Stellen ähnelt die Auseinandersetzung einem Streit unter Piloten, die sich ob der Wahl des richtigen Kartenmaterials und des besten Treibstoffs beharken, ohne zu wissen, ob ihr Flugzeug überhaupt fliegen kann.
Jedem Räsonnieren sollte ein Sondieren der Faktenlage voraus gehen. Im Gesetzesentwurf für eine "menschenfreundliche Medizin" findet sich lediglich der Satz, mit der Stammzellforschung verbände sich "die Chance einer Heilung von bislang unheilbaren Krankheiten". Laut dem Antrag auf Beibehaltung des Stichtags gibt es keinen einzigen Beleg, dass embryonale Stammzellen therapeutisch anwendbar sind. Andere Stammzellen würden hingegen "seit vier Jahrzehnten erfolgreich zur Behandlung von Patienten eingesetzt". Der Entwurf für einmalige Stichtagsverschiebung urteilt, die Zahl der zugänglichen Zelllinien sei zurückgegangen. Dem Plädoyer für einen Forschungsausstieg hingegen ist zu entnehmen, dass diese Zahl seit 2002 ebenso "deutlich zugenommen" habe wie die Gewissheit, das "inhärente Tumorrisiko" nicht ausschalten können.
Insofern wäre die angesichts eines Terminplans, der bereits für den 13. März 2008 die dritte Lesung des Gesetzes vorsieht, unwahrscheinlichste Lösung die beste: Die verschiedenen Gruppen treffen sich zum Faktenvergleich, zum gemeinsamen Studium und zur Lektüre der jeweiligen Gegenposition. Denn auch ins Utopicon einer verbesserten Welt lässt sich nicht reisen auf löchrigen Reifen.