VOLKSPARTEIEN
Rezepte gegen die Auflösungserscheinungen an der Basis gesucht
Zeche, Stahlwerk, Taubenzüchter, Kaninchenhalter und SPD-Ortsverein: Im Ruhrgebiet gehörten Arbeitswelt und Arbeitermilieu noch in den 1970er-Jahren zusammen. Aber allein am Beispiel Dortmund wird deutlich, dass mit dem Sterben von Kohlebergbau und Stahlindustrie auch die sozialdemokratischen Milieus schrumpften. Von den damals mehr als 20.000 SPD-Mitgliedern in der Ruhrgebietsmetropole sind heute noch 9.500 übrig, junge Leute sind Mangelware. Die CDU, die in Nordrhein-Westfalen 40 Jahre in der Opposition war, hat die SPD - gemessen an den Mitgliederzahlen - bereits vor fünf Jahren überrundet. Jetzt liegt die CDU erstmals auch bundesweit vor den Sozialdemokraten.
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sprach von einem "historischen Tag" seiner Partei. Denn am 28. Juli war der Vorsprung der CDU vor der SPD amtlich festgestellt worden. Danach hatte die CDU zum Ende des ersten Halbjahres 530.755 Mitglieder, die SPD noch 529.994 Mitglieder. "Mitgliederschwund ist kein Naturgesetz", sagte Pofalla und kündigte an, dass die CDU etwas gegen die Verluste, die sie genauso wie die SPD hinzunehmen hat, tun werde. Denn beide Volksparteien verlieren Mitglieder. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte die SPD noch 920.000 Mitglieder, die CDU lag bei 750.000. Pofalla wies darauf hin, dass seine Partei im März und April mehr Neuaufnahmen als Austritte verzeichnet habe; in den anderen Monaten gab es aber mehr Austritte als Neuaufnahmen.
Und für ein anderes Problem haben die Strategen in beiden großen Parteien bisher keine Lösung gefunden. Die Mitgliedschaft wird im Durchschnitt immer älter. Bei der CDU lag der Anteil der über 60 Jahre alten Mitglieder im vergangenen Jahr bei 48 Prozent. 1990 waren es noch 29 Prozent. In der SPD stieg der Anteil dieser Altersgruppe von 26 Prozent (1990) auf 47 Prozent.
"Die CDU kann nicht stolz darauf sein, dass sie im freien Fall, in dem sich die Volksparteien befinden, die etwas langsamere Geschwindigkeit hat", warnt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter. Die Daten hätten Anlass geboten, über die Lage der Parteien insgesamt nachzudenken, so Oberreuter, Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
Auch in der SPD werden Pofallas Bemerkungen mit Kopfschütteln registriert. Das "Triumphgeheul" sei ein Armutszeugnis, so der Parlamentarische Geschäftsführer der Sozialdemokraten, Thomas Oppermann. "In Wirklichkeit ist dies ein Wettbewerb Not gegen Elend. Darüber kann sich niemand freuen", betont Oppermann. "Allen Vertretern von Volksparteien sollte das Jubelgeschrei im Halse steckenbleiben", so SPD-Vorstandsmitglied Björn Böhning. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen sei ein Problem für die Parteiendemokratie insgesamt. Die SPD habe sich zu wenig um die Probleme der Menschen vor Ort und um die Gewinnung neuer Mitglieder gekümmert.
Eindeutige Rezepte zur Trendumkehr gibt es nicht. Nach Ansicht des Vorsitzenden des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD-Fraktion, Johannes Kahrs, steckt die SPD in einer "strategischen Klemme". Auf der einen Seite breche die CDU mit ihren teilweise unfinanzierbaren Vorschlägen immer weiter in das SPD-Klientel ein. Und auf der anderen Seite biete die Linkspartei immer etwas mehr als die SPD an, so dass "wir in die Gefahr kommen, das umsetzen zu müssen", sagte Kahrs. Außerdem habe die SPD ihre Kanzlerkandidatenfrage nicht geklärt. Für viele Menschen sei dies unbefriedigend, weil sie wissen wollten, in welche Richtung die SPD gehen werde.
Aber ist der richtige Kanzlerkandidat wirklich die richtige Lösung? Ein ausländischer Kandidat lockte gerade erst 200.000 Menschen an die Berliner Siegessäule: Der US-Politiker Barack Obama vermittelte seinen Zuhörern dieses Wir-Gefühl, das man nur noch von Konzerten großartiger Bands kennt. Ein Vorbild für deutsche Politiker?
Der Politikwissenschaftler Oberreuter hält nichts davon: "Wir brauchen keine Medien-Effekte und keine Kunstprodukte, die von Spin-Doctors und Media-Consultings gestylt sind", betont der Wissenschaftler. Oberreuter glaubt, dass die Öffentlichkeit gerade deswegen mit den Parteien im Clinch liegt, weil viel zu viel Symbolik gemacht werde und zu wenig Glaubwürdigkeit da sei. "Da ist Obama keine Rettung. Er ist ein Medienprodukt. Obama musste bei der ersten realen Herausforderung seine Position zum Irak-Krieg revidieren. Das ist kein Glaubwürdigkeitsnachweis. Wir brauchen Politiker, die dem Volk das Gefühl vermitteln, dass sie nah an den Problemen der Menschen sind, mit den Problemen umgehen können und keine symbolischen Inszenierungen betreiben. Die 200.000 Zuschauer von Obama verflüchtigen sich sehr schnell", vermutet der Wissenschaftler.
Anderer Ansicht ist der Wahlkampfberater des ehemaligen Unions-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber (CSU), Michael Spreng. Obama habe ein Charisma, das man bei deutschen Politikern nicht finde. "Bei Frau Merkel verfallen die Leute nicht in ekstatische Verzückung, wenn sie spricht, wenn sie handelt oder man ihr begegnet", sagt Spreng. Barak Obama sei "jung, er ist neu, er ist frisch und begeisternd. All dies kann man ja von den deutschen Politikern nicht behaupten." Es sei in Deutschland, wo Kandidaten immer noch in Hinterzimmern der Parteien ausgekungelt würden, unmöglich, eine Persönlichkeit wie Obama zu bekommen.
Ganz anders stellt sich die Lage derzeit bei den kleineren Parteien dar. FDP, Bündnis 90/Die Grünen und vor allem die Linkspartei melden leichte Zuwächse. Die FDP hat 65.098 Mitglieder, was im Vergleich zum Jahresanfang ein Plus von 1.020 bedeutet. Die Grünen legen um 380 auf 44.700 zu. Die Linke meldet einen Zuwachs von 3.000 neuen Mitgliedern und gibt jetzt eine Gesamtzahl von knapp 75.000 an. Besonders starke Zuwächse verzeichnet die Linke im Westen Deutschlands. "Nordrhein-Westfalen ist mittlerweile der viertgrößte Landesverband hinter Sachsen, Berlin und Brandenburg", erläutert Linke-Geschäftsführer Dietmar Bartsch. Im Saarland kam es sogar kürzlich zu einem Masseneintritt von Busfahrern in die Linkspartei.
Ein Sonderfall in der Parteienlandschaft ist die auf Bayern beschränkte CSU. Zwar hat auch sie seit 1990 rund 20.000 Mitglieder verloren. Aber im Verhältnis zur Gesamtzahl von heute 166.000 Mitgliedern ist der Verlust relativ geringer als bei der großen Schwesterpartei CDU.
Oberreuter hat dafür eine Erklärung: Die CSU habe immer eine geschlossene Region vertreten und immer die Strategie gehabt, das Lebensgefühl ihres Landes zu repräsentieren. Unsicherheiten sieht Oberreuter aber auch in diesem Fall: "Wie lange die CSU das noch schafft, halte ich für eine offene Frage, aber bisher ist ihr das noch gelungen."