Roman
Marc Buhl erkundet das Leben und Leiden eines Stasiopfers. Doch das erweist sich als schwieriges Unterfangen
Mutig! Mutig, wenn einer aus dem Westen einem aus dem Osten ins Gehirn schauen möchte. Und nicht irgendeinem "normalen" Ostdeutschen, sondern einem, der wenige Monate vor der Maueröffnung in die Fänge der Staatssicherheit gerät und kurz nach dem Mauerfall wieder in die Freiheit entlassen wird. Einem, der nach gründlicher Gehirnwäsche im Stasi-Knast Hohenschönhausen mit seiner Freiheit nichts mehr anzufangen weiß, als sich in den Südwesten des wiedervereinigten Deutschlands zu flüchten, eine kleine Familie zu gründen, als erfolgreicher Antiquitätenhändler sein Geld zu verdienen, um sich nach 20 Jahren "erfolglos" eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die raubt ihm jegliche Erinnerung an sein zurückgezogenes Leben im Schwarzwald. Die Rede ist von dem in Ost-Berlin geborenen Ingenieurstudent Paul Cremer. Erdacht und zum fiktiven Leben erweckt von dem im schwäbischen Sindelfingen zur Welt gekommenen Schriftsteller und Studienrat Marc Buhl.
In seinem nunmehr vierten Roman begleitet Buhl diesen Rekonvaleszenten bei dem schwierigen Prozess, der eigenen Vergangenheit und seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen. Er konfrontiert ihn dabei mit den gewöhnungsbedürftigen Behandlungsmethoden in der deutschen Psychiatrie, den verletzten Gefühlen seiner Ehefrau und seines 17-jährigen Sohnes. Die sich beide nicht erklären können, wieso er sich das Leben nehmen wollte. Wie Cremer selbst, der verzweifelt darauf wartet, dass die Erinnerung an die vergangenen 20 Jahre mithilfe alter Familienfotos und in Gesprächen mit "alten" Bekannten wiederkehrt. Doch das einzige, woran er sich allmählich zu erinnern vermag, ist die Zeit vor und kurz nach seiner Verhaftung. Es ist die Zeit, in der er mit seiner damaligen Freundin Hannah harmonisch zusammenlebte.
Diese Beziehung ist - man ahnt es leider schon nach den ersten 50 Seiten - der eigentliche Schlüssel zu seinem Schicksal. Nicht die Rückkehr ins zerstörte Familienleben hilft seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Die Sehnsucht nach der Geliebten schwemmt die schmerzhaften Erinnerungen an die unerträglichen Haftbedingungen und die perfiden Stasi-Verhöre wieder an die Oberfläche. Sie halten ihn nämlich unbewusst noch ebenso gefangen wie die Liebe zu Hannah. Das 20-jährige Intermezzo im Schwarzwald war eine letztlich unbedeutende Episode in seinem Leben, das ganz und gar von seinem relativ kurzen Gefängnisaufenthalt als Häftling Nr. 375 geprägt wurde.
Buhl hat mit vielen Zeitzeugen aus Hohenschönhausen gesprochen. Sie haben ihm sicherlich bestätigt, wie unauslöschlich die Erinnerung an die Haft ist und wie unmöglich es ist, diese Zeit psychisch zu verarbeiten. Er hat ihnen aufmerksam zugehört und in seinem Roman plastisch und einfühlsam beschrieben, was einem Menschen durch den Kopf geht, wenn er gezwungen wird bei flackerndem Neonlicht und in vorgeschriebener Liege-position einzuschlafen. Was es heißt, von Stasi-Offizieren mal mit offener Gewalt, mal mit subtilem Psychoterror zum Geständnis respektive zum Verrat von Freunden und Angehörigen genötigt zu werden. All das mögen Besucher der Gedenkstätte Hohenschönhausen aus den Erzählungen ehemaliger Stasi-Opfer kennen, die dort durch Zellen wie Verhörräume führen und teils sehr sachlich, teils sehr emotional das erlittene Unrecht schildern.
Für die meisten Leser werden jedoch viele historische Details in Buhls Roman neu sein. Vor allem aber werden sie darüber schockiert sein, wie schnell und dauerhaft ein selbstbewusster Mensch psychisch gebrochen werden kann. Möglicherweise werden aber einige Leser auch darüber entsetzt sein, in welch eine unglaubwürdige Rahmenhandlung und in welch einem sentimentale Duktus Buhl diese Botschaft verpackt hat. Mag sein, dass einen im tiefsten Innern verletzter Mensch die Vergangenheit nach 20 Jahren just am Geburtstag der verloren geglaubten Freundin wieder einholt und in den versuchten Selbstmord treibt. Unwahrscheinlich wirkt jedoch, dass ihm Ehefrau und Sohn mit Hass begegnen, nur weil er den Suizidversuch nicht begründen kann. Und er nicht zuletzt deswegen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die badische Heimat flieht, nach Berlin fährt und durch mehrere Zufälle sein Seelen- und Liebesheil wiederfindet.
Die all seine Gedanken und Gefühle beherrschende "Love-Story" lassen den aufklärerischen Impetus des historisch interessanten Ansatzes verpuffen. Pathetisch-melodramatische Sätze - "Ich bin gestorben. Gestorben in Dir. Kein schöner Tod" - von Cremer oder etwa die vom Autor moralisch aufgeblähten Rechtfertigungen eines Stasi-Peinigers - "Aus großer Liebe zu den Menschen mussten wir auch große Strafen verhängen, aber der Einzelne trägt doch keine Schuld. Es gibt keine Schuld, sondern nur bestimmtes Handeln in einer bestimmten Situation" - zeigen doch deutlich die Grenzen von Buhls geschichtlichem und psychologischem Einfühlungsvermögen auf.
Buhls Roman zeigt wieder einmal, wie schwierig es ist, ein sensibles Stück Zeitgeschichte poetisch in den Griff zu bekommen. Buhl ist leider weder das Kunst- noch das Lehrstück wirklich gelungen. Weshalb der gut gemeinte Roman den wirklichen Stasiopfern wahrscheinlich so wenig Trost bieten wird wie dem Leser Einblick in die heutigen Gefühle der damals zu Unrecht Inhaftierten.
Drei Sieben Fünf. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2008; 288 S., 19,95 ¤