Staudämme
Im Westen häuft sich die Kritik an Staudämmen und Talsperren. In China werden sie bejubelt. Tausende Ortschaften mussten dem Wasser schon weichen
Die Betonmauer des Drei-Schluchten-Staudamms ist ein beeindruckendes Bauwerk, das chinesischen Touristen regelmäßig Rufe der Bewunderung entlockt: Auf mehr als zwei Kilometern Länge durchschneidet der gekrümmte Riese den Yangtse-Fluss in der Provinz Hubei. Flussaufwärts staut sich seit der Eröffnung im Mai 2006 ein See von 600 Kilometern Länge. Wenn im kommenden Jahr der Pegelhöchststand von 175 Metern erreicht ist, wird die schroffe Schönheit der drei Schluchten Qutang, Wuxia und Xiling in weiten Teilen von Wasser bedeckt sein.
Tausende Städte, Dörfer und historisch bedeutende Orte sind schon in den aufgestauten Fluten versunken. Rund 1,5 Millionen Menschen mussten Schätzungen zufolge ihre Häuser aufgeben. Doch obwohl die drohenden Umweltschäden entlang des Flusslaufs mittlerweile auch einheimischen Wissenschaftlern Sorge machen, bleibt der "Sanxia Daba" der Stolz der Nation. Schon Sun Yat-sen, der Gründer des modernen China, träumte 1919 von einem Damm, der den unberechenbaren Langen Fluss in seine Schranken weist. Mao Zedong widmete der Vision sogar ein Gedicht.
Mit einfachen Wehren aus Reisig und Stroh versuchten die Menschen schon vor Jahrtausenden, sich die Ströme Untertan zu machen. Im iranischen Zagros-Gebirge wurde nach Vermutungen von Archäologen schon vor 8.000 Jahren Wasser gestaut.
Die Talsperren der Neuzeit sind Wunderwerke der Ingenieurskunst. Sie machen einstige Rinnsale schiffbar, liefern Wasser für Wüsten und sauberen Strom durch Wasserkraft. 45.000 große Talsperren gibt es weltweit. Groß sind laut Definition der Internationalen Kommission für Großstaudämme alle Bauwerke, die mehr als 15 Meter hoch sind oder mehr als drei Millionen Kubikmeter Wasser aufstauen. In Deutschland gibt es 311 Anlagen dieses Typs, viele entstanden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In den USA wurden in den 1920er- und 30er-Jahren dutzende Mammut-Staudämme errichtet: Kalifornien wird bis heute zu einem erheblichen Teil aus dem durch Bauwerke wie den Hoover-Damm gezähmten Colorado-River bewässert.
"Chinesische Ingenieure treten das Erbe der Staudammpioniere in den USA an", sagt Volkmar Hartje, Landschaftsökonom und Staudammexperte von der Technischen Universität Berlin. Während im Westen vor allem über die Umweltschäden debattiert werde, überwiege in Asien mit seinen energiehungrigen Volkswirtschaften die Faszination für die Technik. Die EU treibt mit den strengen Vorgaben der Wasserrichtlinie den Bau von Fischaufstiegshilfen und die Renaturierung der Oberläufe voran, in den USA verloren seit 1997 rund 300 Dämme ihre Lizenzen. In China aber, wo es bereits etwa 25.000 Großstaudämme gibt, sind zehn bis zwanzig weitere in Bau.
Lange Zeit galten die Riesenwasserspeicher als wichtiges Instrument westlicher Entwicklungspolitik. Seine Blüte erlebte der Staudammbau in den 1960er- und 1970er-Jahren, Anlagen gigantischer Ausmaße wurden in Afrika, Asien und Lateinamerika errichtet. Sie sollten armen Ländern Wasser und Energie liefern - und Großunternehmen lukrative Großaufträge bescheren.
Doch in den 1980er-Jahren belegten erste Umweltstudien die Nachteile der Bauten: aufgestaute Flüsse zerstörten Ackerland und den Lebensraum seltener Tiere, in neu entstehenden Wasserflächen siedelten plötzlich Krankheiten übertragende Insekten, durch Massenumsiedlungen wurden Menschen ins soziale Elend gestürzt.
Berühmt wurden die Proteste Mitte der 1990er-Jahre: Nach anhaltendem Widerstand gegen den Bau hunderter Staudämme und die drohende Umsiedlung von 200.000 Menschen im indischen Narmada-Tal stieg die Weltbank überraschend als Hauptgeldgeber aus. Im Bemühen um einen Kompromiss zwischen Staudamm-Gegnern und -Befürwortern wurde 1997 die World Commission on Dams (WCD) ins Leben gerufen. Drei Jahre untersuchte das Gremium aus Vertretern von Weltbank, Umweltorganisationen und Regierungen Staudammprojekte - und vergab mäßige Zeugnisse: Allein die Weltbank habe rund 75 Milliarden Dollar für den Bau von 538 großen Dämmen ausgegeben, die zur Zwangsumsiedlung von mehr als zehn Millionen Menschen führten. Bis zu 80 Millionen Menschen wurden insgesamt durch die Bauten verdrängt, die veranschlagten Kosten lagen im Schnitt um mehr als die Hälfte höher als erwartet. Künftig sollten vor dem Bau eines Großstaudamms der tatsächliche Bedarf abgeschätzt, mögliche Alternativen geprüft und die Anrainer befragt werden, forderte die Kommission.
Dagegen steht der wirtschaftliche Nutzen: Weltweit liefern Dämme das Wasser für bis zu 40 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen. Nach Angaben der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) trägt die Wasserkraft heute etwa 18 Prozent zur weltweiten elektrischen Energieerzeugung bei. Auf Staudämme verzichten könne die Entwicklungspolitik nicht, sagt GTZ-Mitarbeiterin Kirsten Nyman. In "Damm-Dialogen" mit Behörden, Planern und Betroffenen setzt sich die GTZ für ein nachhaltiges Vorgehen bei neuen Projekten in Afrika ein.
Die Staudamm-Debatte ist also nicht abgeschlossen, wie auch das Beispiel des umstrittenen Ilisu-Projekts in der Türkei zeigt, für das Deutschland, Österreich und die Schweiz die Beteiligung von Unternehmen aus ihren Ländern mit Kreditgarantien absicherten. Am Oberlauf des Tigris plant Ankara eine mächtige Talsperre, die Millionen Haushalte mit Strom versorgen soll, deren Stausee aber auch die historische Kleinstadt Hasankeyf verschlingen und 50.000 Menschen zum Umsiedeln zwingen würde.
Die Zukunft der großen Staudämme liegt aber in Asien, ist Volkmar Hartje überzeugt. Internationale Auflagen verlören angesichts des steigenden finanziellen Spielraums von Ländern wie China und Indien an Bedeutung. Ob sich chinesische Kreditgeber daran gebunden fühlten, bleibe abzuwarten. "Für die Entwicklungspolitik stellt sich natürlich die Frage, wie man unter diesen Umständen die Planung dort noch beeinflussen kann."
Die Autorin ist Wissenschafts- journalistin und Redakteurin der Nachrichtenagentur AFP.