GEopolitik
Russland macht den USA ihre Dominanz in einer unipolaren Weltordnung streitig
Nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland erlebt das Thema Geopolitik eine Renaissance - vor allem mit Blick auf die Entwicklungen in Eurasien. Die aktuelle Krise im Südkaukasus, ausgelöst durch den militärischen Angriff der georgischen Truppen auf die abtrünnige Provinz Südossetien und Russlands schnelle und harte Antwort darauf bestätigen, dass auch im 21. Jahrhundert die militärische Austragung zwischenstaatlicher Konflikte eine Option der Politik bleibt. Hinzu kommt, dass keine stärkere Einheit ein machtpolitisches Vakuum lange duldet, eine Lehre aus der Geschichte, an die Egon Bahr in seinem Vorwort zum vorliegenden Sammelband erinnert. Aus Moskaus Sicht handelte es sich bei der Nato-Osterweiterung um ein aggressives Vordringen in ein solches Machtvakuum. Gegen den ausdrücklichen Willen Russlands streben auch die Ukraine und Georgien in das Bündnis. Die Großmacht reagierte prompt mit einer neuen sicherheitspolitischen Konzeption und einer entsprechenden Militärdoktrin.
Die Autoren analysieren die innen-, außen- und sicherheitspolitischen Prozesse im postsowjetischen Raum. Die Artikel von Winfried Schneider-Deters über die Ukraine und von Peter W. Schulze über Russland gehören zu den lesenswertesten. Überraschend unkritisch ist hingegen die Arbeit der russischen Wissenschaftlerin Ksenia Borischpoletz, Mitarbeiterin am renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), über Zentralasien. Ihr "gelingt" es, die weitgehend autoritären und diktatorischen Verhältnisse vor Ort als politische Konsolidierung zu beschönigen.
Enttäuschend oberflächlich berichtet Alexander Iskandaryan über den Aufbau der staatlichen Strukturen und die Suche nach "politischer Identität" in den Ländern des Südkaukasus. Auch die Vergleiche der interregionalen Konflikte sind dem Autor misslungen. Zu Recht verweist Iskandaryan zwar auf das permanente Engagement der Weltgemeinschaft für das Prinzip der Unverletzbarkeit der Grenzen. Das hielt große Teile des Westens jedoch nicht davon ab, dieses Prinzip in Sonderfällen - erinnert sei an die Anerkennung Eritreas oder des Kosovo - zu relativieren. Er vergleicht die Lage der Armenier in Berg-Karabach und der Türken in Nordzypern mit den Kosovo-Albanern. Falsch ist seine These, es ginge bei den Konflikten allein um die Abgrenzung von der jeweiligen Titularnation. Denn die Armenier in Berg-Karabach wären gerne mit der Republik Armenien vereinigt. Auch Abchasen und Südosseten haben wiederholt ihren Wunsch geäußert, Teil Russlands zu werden. Allerdings wollten die Führungen dieser Nationalstaaten nicht gegen das Völkerrecht verstoßen, indem sie sich quasi im Alleingang fremde Autonomien einverleiben.
Ausdruck seines Wunschdenkens ist Iskandaryans Prognose, militärische Lösungen der Konflikte im Südkaukasus seien allein deshalb "erschwert", weil die Weltgemeinschaft "große Anstrengungen" unternehme, um Genozide und ethnische Vertreibungen bereits im Vorfeld zu verhindern. Tatsächlich respektierte weder Georgien den Waffenstillstand mit der südossetischen Minderheit noch verzichtete Russland auf einen militärischen Vergeltungsschlag gegen das pro-amerikanische Georgien.
Worin gründet dieses harte außenpolitische Vorgehen des Kremls? Der Göttinger Wissenschaftler Peter W. Schulze thematisiert zuerst die innenpolitische Entwicklung in Russland und zeichnet einen Stabilisierungsprozess nach, der vielen Russland-Kritikern nicht ins Bild passt. Putins Machtvertikale, die autoritäre Züge in sich trägt, hätten Zerfall und Untergang des russischen Staates abgebremst. Die im Westen scharf kritisierte, souveräne Demokratie verdiene eine eingehende Analyse, meint Schulze. Denn auf ihr basiere Russlands künftige Demokratie. Auch Putins Bereitschaft, sich als Vorsitzender einer politischen Partei und als Ministerpräsident in die Pflicht nehmen zu lassen, wertet der Wissenschaftler als wichtigen Schritt zur Stärkung der parteipolitischen Landschaft und des Parlamentarismus im Land.
Schulze beschreibt überzeugend die Hintergründe der Putin'schen Außenpolitik, insbesondere gegenüber Europa und den USA. Dass der russische Präsident dafür scharf kritisiert wurde, führt er darauf zurück, dass sich der Westen nach Jahren der Zusammenarbeit mit einem finanziell ruinierten Land plötzlich einer wieder erstarkten Macht gegenübersah, die ihre Interessen unnachgiebig vertritt. Der Autor ist sich sicher, dass die von den USA dominierte unipolare Weltordnung mit dem Aufstieg Russlands und Chinas beendet ist.
Als Leiter der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew beobachtete Winfried Schneider-Deters von 1996 bis 2000 den politischen Transformationsprozess in der Ukraine. In seinem ausführlichen Bericht zeigt er die Schwierigkeiten der innen- und außenpolitischen Stabilisierung des Landes. "Getragen vom politisch-moralischen Momentum ihrer demokratischen Revolution" erhebe die "orangene Führung" seit drei Jahren den Anspruch auf Mitgliedschaft in der EU. Doch obwohl die Europäer der ukrainischen Führung während der Revolution Unterstützung zusicherten, zeige Brüssel Kiew seitdem die kalte Schulter.
Der Sammelband belegt, dass den Europäern unruhige Zeiten bevorstehen. Denn Moskau ist mit den Machtverhältnissen in Eurasien nicht einverstanden. Vor allem die US-Präsenz ist dem russischen Bären ein Dorn im Auge.
Die Europäische Union, Russland und Eurasien.
BWV, Berlin 2008; 656 S., 59 ¤