Biografie
Boris Reitschuster über Dmitri Medwedew
Mit der Schlagzeile "Kann Russland zwei Sonnen ertragen?" hinterfragte die russische Zeitung "Nezavisimaja gazeta"die neue politische Doppelherrschaft im größten Staat der Welt. Von den heftigen Diskussionen in Russland, die Präsident Wladimir Putins Entscheidung auslöste, er wolle künftig nur noch die "zweite Geige" spielen, bekam der deutsche Medienkonsument jedoch nur wenig mit. Teilweise schließt das aktuelle Buch von Boris Reitschuster, Moskau-Korrespondent des Nachrichtenmagazins "Focus", diese Lücke. Detailliert und kritisch berichtet er vom politischen Theater im Kreml vor der Präsidentschaftswahl. Bereits vor vier Jahren hatte den Journalisten seine Abneigung gegen das von Putin verkörperte System nicht davon abgehalten, die beste deutschsprachige Putin-Biografie vorzulegen.
Dieses Mal nimmt Reitschuster den neuen Herrn im Kreml ins Visier. Allerdings lässt der Autor bereits mit einem Fragezeichen im Buchtitel Zweifel an den realen Machtverhältnissen in Russland aufkommen. Sein Buch ist jedoch nur einen Monat nach der Präsidentschaftswahl vom März 2008 erschienen, zu einem Zeitpunkt an dem noch keine validen Aussagen darüber möglich waren, wie sich Dmitri Medwedew als Präsident tatsächlich verhalten würde. Reitschuster präsentiert mit seiner Biografie einen Präsidenten, der noch keiner ist. Stattdessen erfährt der Leser viel über das System Putin und die Machtkämpfe in dessen Umfeld.
Reitschusters Buch über Medwedew ist ein Schnellschuss. Dass er dem frisch ins Amt gekommenen Präsidenten dabei regelrecht zur Schnecke macht, sei nur am Rande vermerkt. Bereits Medwedews geringe Körpergröße (1,62 Meter) wird negativ verbucht und ist dem Journalisten fast eine Seite psychoanalytischer Betrachtungen wert. Erschwerend kommt hinzu, dass er dem neuen Präsidenten bescheinigt, "eine Marionette" seines Mentors und früheren Vorgesetzten Wladimir Putin zu sein. Das ganze Buch zielt darauf ab, diese These zu bestätigen. Dabei ist das gar nicht nötig. Denn sowohl Putins Entscheidung als auch Medwedews Einverständnis, dessen Politik fortzusetzen, wurden in Moskau öffentlich zelebriert.
Positiv zu vermerken ist, dass Reitschuster sachkundige russische Experten - wie etwa Olga Kryschtanowskaja - zu Wort kommen lässt. Putin habe Medwedew ausgesucht, weil es "äußerst unwahrscheinlich" sei, dass dieser "zum Verrat in der Lage ist". Der Neue sei ehrlich und werde Putin nicht verdrängen, beschreibt die Moskauer Soziologin das Verhältnis des Polit-Tandems. Dennoch hat der Journalist Zweifel: In Swetlana, der selbstbewussten Gattin Medwedews, erkennt er eine neue Raisa Gorbatschowa. So erzählte "ein sehr gut vernetzter Moskauer Politiker" dem Journalisten, dass Putin Swetlana und deren Ehrgeiz nicht in sein Kalkül einbezogen habe.
Kritikwürdig ist an Reitschusters Arbeit vor allem, dass er darauf verzichtet, seine Quellen offenzulegen. Dieses Manko macht auch sein Hinweis nicht wett, dass ausländische Journalisten in der Regel nicht direkt mit russischen Entscheidungsträgern sprechen könnten. Denn gleichzeitig bedient sich Reitschuster einer Sprache, die den Leser glauben machen will, Putin habe auf seiner Büro-Couch gelegen und ihm von den "wohl schwierigsten Entscheidungen seines Lebens" berichtet.
Über Medwedew erfährt der Leser nur so viel, wie der Autor den russischen Medien entnehmen konnte: Er zeichnet das Bild eines Jungen, der sich in der Schulzeit verliebte und zielstrebig studierte. Als promovierter Jurist unterstützte Medwedew den Wahlkampf von Anatoli Sobtschak, dem bekannten Perestrojka-Politiker und späteren Gouverneur von St. Petersburg. Danach wurde er juristischer Berater von Wladimir Putin, der Anfang der 1990er-Jahre für die Außenbeziehungen der Stadt verantwortlich war. Hier beginnt der gemeinsame politische Weg der beiden, der jüngere Medwedew immer im Kielwasser des älteren Putin.
Auf diesem Weg wurde Medwedew Vizechef des Präsidialamtes, dann Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom. Später ernannte ihn Putin zum ersten Vize-Ministerpräsidenten und übertrug ihm die Kontrolle über die prestigeträchtigen und Milliarden Dollar schweren "nationalen Projekte". Seit 2006 baute Putin Medwedew generalstabsmäßig zu seinem Nachfolger auf - auch wenn dies viele Russland-Experten überraschte.
Um den Auserwählten zum Nachfolger zu krönen, scheute der Präsident nicht davor zurück, falsche Spuren zu legen. Auf einige fiel auch Reitschuster hinein. Statt Spekulationen in den Mittelpunkt zu rücken, sollte er sich besser mit Russlands schwierigem Transformationsprozess beschäftigen. Ansonsten könnte der engagierte Journalist zu einem der unzähligen "Kreml-Astrologen" mutieren.
Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml? Dmitrij Medwedew
Econ Verlag, Berlin 2008; 254 S., 16,90 ¤