RUSSLAND
Thomas Roth über Politik und Wirtschaft im größten Land der Erde
Seit dem 7. Mai hat Russland einen neuen Präsidenten. Doch die Wahl Dmitri Medwedews war keineswegs demokratisch, sondern manipuliert. Auch sonst liegt vieles im Argen. Alte KGB-Kader regieren einen Staat, in dem Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit zwar auf dem Papier stehen, aber die Wirklichkeit den Beobachter eines Besseren belehrt. Das sind nur einige der Probleme, die Thomas Roth in "Russland. Das wahre Gesicht einer Weltmacht" aufgreift. Nicht ohne Grund wird das autoritär regierte System von anderen Autoren deshalb gerne als "System Putin", "gelenkte Demokratie" oder schlicht als Fassadendemokratie tituliert. Welchen Kurs Russland mit Medwedew an der Spitze einschlägt, zeigen die aktuellen Ereignisse im Kaukasus. Der Konflikt mit Georgien um die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens eskalierte auf blutige Weise. Premierminister Wladimir Putin übernahm die Kriegsführung und entblößte dadurch den eigentlichen Befehlshaber der Streitkräfte als Marionette. Damit hat die Geschichte Roth zumindest vorläufig recht gegeben: "Putin wird weiter steuernd im Spiel bleiben."
Der 56-jährige Roth ist vielen deutschen Fernsehzuschauern als ARD-Korrespondent bekannt. Aus seiner russischen Wahlheimat berichtete Roth über das Ende der Sowjetunion ebenso wie über den Tschetschenien-Krieg oder den Untergang der "Kursk". Seine Eindrücke und Erlebnisse aus all den Jahren hat der profilierte Journalist zusammen mit Informationen aus erster Hand und geschichtlichem Hintergrundwissen zu einem kohärenten und zugleich spannenden Bild des heutigen Russlands verwoben. Entstanden ist ein fakten- und kenntnisreiches Buch über Politik und Wirtschaft des größten Landes der Welt.
Seine Kritik bringt der Leiter des ARD-Studios in Moskau in stets unterhaltsamem, keineswegs nüchternem Ton vor. Dabei erstrecken sich die Schilderungen auf die russische Geschichte seit Anfang der 1990er-Jahre über die Regierungszeit Boris Jelzins bis zum Ende der zweiten Amtszeit Putins. Einen Schwerpunkt legt Roth neben dem Tandem Putin-Medwedew auch auf das Milliardenspiel mit dem russischen Öl und Gas - ein wichtiges Instrument des Kremls für seine knallharte Interessenpolitik.
Neues erfährt man allerdings auf den 332 Seiten kaum. Das meiste dürfte dem Leser durch die Medienberichterstattung der vergangenen Jahre bekannt sein. Dennoch lohnt die Lektüre. Allein die zahlreichen Anekdoten, die der Fernsehjournalist immer wieder in den Text einstreut, gewähren ungeahnte Einblicke in die russische Seele. Als Roth 2001 nach einem Interview von Putin zum Essen eingeladen wird, spricht man auch über die Demokratie. Die Präsidentengattin Ludmila Putina bringt es auf den Punkt: "Was glauben sie, was solchen Menschen, die die chaotischen Neunzigerjahre durchlebt haben, beim Wort Demokratie einfällt? Ihnen fällt ein, dass sie arm geworden sind, dass die Inflation und der mehrfache Zusammenbruch der Währung ihr Geld aufgefressen hat. (...) Familien wie diese haben sich in der sowjetischen Zeit wohler gefühlt, weil sie sicherer waren." Von solchen Passagen lebt das Buch genauso wie von den Erzählungen über den Alltag eines Korrespondenten. Momente des Glücks reihen sich an Zweifel, die richtige Berufswahl getroffen zu haben. So etwa, als ein befreundeter Kameramann bei einer Schießerei ums Leben kommt. Nicht zu vergessen: Die "Mauer des Schweigens" auf die Roth bei seinen Recherchen unablässig stößt.
Insgesamt ist sein Buch eine packende Analyse des heutigen Russlands, die dem interessierten Laien getrost empfohlen werden kann. Der Fachmann wird jedoch wenig Überraschendes finden. Wer Roths "Russisches Tagebuch" kennt, dem fällt eine Sache ins Auge. Diesmal steht die große Politik im Vordergrund, Platz für den einfachen Mann von der Straße bleibt bis auf Ausnahmen kaum. Davon hätte man sich jedoch mehr gewünscht.
Russland. Das wahre Gesicht einer Weltmacht.
Piper Verlag, München 2008; 332 S., 19,90 ¤