Jugend
Die russischen Jugendlichen sind eher apolitisch, streben dafür nach Freiheit und Wohlstand. Und nehmen auch Risiken in Kauf
In Russland ist jeder Tag ein Feiertag. Es gibt den Tag des Wissens und den der Schönheit, den Ehrentag der Panzerfahrer und den der Erdölbohrer, es gibt den Tag der Russischen Post, des Schachspiels, sogar der Bikini hat einen Ehrentag. Am 27. Juni ist der "Tag der russischen Jugend". Ins Leben gerufen wurde er 1993 vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin. Ziel des Feiertages ist es bis heute, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Probleme der russischen Jugendlichen zu lenken. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes beträgt derzeit etwa 30 Prozent - also etwa 47 Millionen Menschen. Russlands Regierung will, dass die Jugendlichen all ihre Kraft und Aktivität in die Zukunft ihres Landes investieren und zum Motor des Fortschritts werden. So steht es zumindest in der offiziellen Meldung der Nationalen Jugendinformationsagentur Russlands.
Doch was will die russische Jugend selbst? Wer ist das überhaupt, die russische Jugend? Offiziell gelten all die als jugendlich, die 14 bis 30 Jahre alt sind. In einer aktuellen Studie des Soziologie-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften wurden im vergangenen Jahr 1.800 junge Leute im Alter von 17 bis 26 Jahren nach ihren Einstellungen, Werten, Wünschen und Ängsten befragt. Das Ergebnis: Die russische Jugend gilt gemeinhin als optimistisch, ehrgeizig und zielstrebig. Das wichtigste Ziel der Nach-Perestroika-Kinder ist, eine gute Ausbildung zu bekommen, einen spannenden Job zu finden - kurz Karriere zu machen (je zwischen 80 und 90 Prozent). Anders als für viele Generationen vor ihr ist für die russische Jugend von heute Unabhängigkeit und Freiheit ein unschätzbarer Wert. 93 Prozent der jungen Leute zwischen Kaliningrad und Wladiwostok geben an, dass es ihnen wichtig ist, ihr eigener Herr zu sein, sich mit dem beschäftigen zu können, was ihnen Spaß macht und ihre Zeit selbst einteilen zu können. 83 Prozent der Jugendlichen haben das Ziel, reich zu werden. Wer es sich leisten kann, investiert in eine eigene Wohnung, kauft sich ein (wenn möglich) ausländisches Auto, fährt ins Ausland in den Urlaub. Immerhin 70 Prozent der jungen Russen sind der Meinung, dass der materielle Wohlstand ganz allein von ihnen selbst abhängt; und dass man für den Erfolg im Leben auch etwas riskieren muss, davon ist mehr als die Hälfte der Studenten und jungen Erwachsenen überzeugt. Gleichzeitig haben 54 Prozent der Jugendlichen Angst, alles zu verlieren und mit nichts dazustehen, fast ein Viertel fürchtet, keinen Job zu finden oder arbeitslos zu werden.
In einer Gesellschaft, in der man also hauptsächlich nach seinem eigenen Lebensglück und persönlicher Erfüllung strebt, ist immer weniger Platz für eigene Kinder und Familie. Und obwohl junge Russen bei dem Thema gar nicht abgeneigt sind - in der Umfrage des Soziologie-Instituts betonen 94 Prozent, dass sie eine Familie gründen, und 92 Prozent, dass sie lebenstüchtige Kinder erziehen wollen -, ist die Geburtenrate seit vielen Jahren gleichbleibend niedrig. Seit Präsident Putin ist dem Staat daran gelegen, das Kinderkriegen finanziell zu unterstützen, zum Beispiel durch günstige Kredite.
Mit Politik wollen die meisten Jugendlichen (49 Prozent) gar nichts zu tun haben. Nichtsdestoweniger schaut immerhin mehr als ein Drittel regelmäßig Nachrichten im Fernsehen, liest die Zeitung oder informiert sich im Internet über das Neueste im Land. Eine Meinung über die Gegenwart und Zukunft des Landes bilden sich also trotz apolitischer Einstellung eine ganze Menge junger Leute. So äußern 70 Prozent die Meinung, dass Russland Stabilität brauche und mäßige Reformen. Mehr als zwei Drittel halten die Persönlichkeitsrechte und die Freiheit des Menschen für das Wichtigste, und 60 Prozent sind der Meinung, dass die demokratische Gesellschaftsform am besten zu Russland passt. Während bis zu den Präsidentschaftswahlen im März 2008 die Jugendbewegungen des Kremls, "Junge Garde" und "Naschi", eine nicht unbedeutende Rolle im öffentlichen Leben spielten - immerhin sympathisierten fast drei Viertel der Jugendlichen mit diesen beiden Organisationen -, so sind diese inzwischen fast in der Versenkung verschwunden. Es heißt, sie hätten ihren Sinn erfüllt - eine orangene Revolution verhindert und die Wahl des von Putin gewünschten Nachfolgers gewährleistet. Nur in der tiefsten Provinz trifft man manchmal noch auf Aktivisten in T-Shirts mit dem Parteilogo.
Ihre Freizeit verbringen die jungen Russen am liebsten mit ihren Freunden, vor dem Fernseher oder auch mit Musik und Videos (je etwa 60 Prozent). Fast 40 Prozent lesen gern Bücher und Zeitschriften. Etwa ein Drittel der Jugendlichen feiert in Klubs, sitzt in Cafés und Bars, treibt Sport oder geht ins Theater.
Einen großen Stellenwert nimmt die moderne Technik im Freizeitverhalten der jungen Russen ein. Etwa jeder Dritte sitzt zur Erholung oder auch zur Unterhaltung am Computer. "Für Russlands Jugend ist das Internet ein Labor, wo sie sich in virtuellen Tagebüchern eine neue Welt konstruiert und mit ihr den Menschen des 21. Jahrhunderts", schreibt Nurija Fatychowa aus Tscheljabinsk, 24 Jahre, in einer Reportage über Blogger und Webdemokratie. Die Anzahl derjenigen, die heutzutage in irgendeiner Form surfen, programmieren, chatten, tippen oder spielen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdreifacht. 54 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 39 Prozent der 25- bis 34-Jährigen gelten entsprechend einer Studie der "Public Opinion Foundation" als Internetnutzer.
Die heute 16- bis 25-Jährigen werden in einer gerade vorgelegten Untersuchung der russischen "Stiftung für Öffentliche Meinung" sogar als "Generation Internet" bezeichnet, alternativ gibt es auch die Bezeichnungen "Generation Google", "Gamer", "Nintendo" sowie "Generation myPod". Eine der bekanntesten Erfolgsgeschichten der Internet-Branche ist die des 24-jährigen Petersburgers Pawel Durow, der noch als Student das größte soziale Netzwerk Russlands "V Kontakte" ("In Kontakt") gründete. Sein Motto: "Wer viel und gerne arbeitet, der bringt es im Leben auch zu etwas."
Die Autorin ist freie Publizistin in Moskau.