Zu wenig russische Kälte und zu viel russische Seele" - bei seiner freundlich gemeinten Kritik an der mangelhaften Chancenverwertung der russischen Nationalmannschaft lieferte ein deutscher Fernsehkommentator während der vergangenen Fußballeuropameisterschaft ein anschauliches Beispiel für die Fortdauer traditioneller Russlandklischees. "Knute" und "Balalaika", "Trunksucht" und "Fröhlichkeit", "wilder Kosak" und "Untermensch" - von Extremen geprägt sind die Vorstellungen von Russland und den Russen in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert. Als Fremd- und Feindbilder haben sie das Denken der Menschen und das politische Handeln mit zum Teil fatalen Konsequenzen beeinflusst.
Waren freundschaftliche Beziehungen zur militärischen Großmacht Russland für alle deutschen Staaten - allen voran für ein aufstrebendes Preußen - bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts von großem Vorteil, wuchsen bald nach der Deutschen Reichsgründung die Vorbehalte gegenüber dem Nachbarn im Osten. Eine verstärkt nationalistische Haltung am Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Deutschen mit zunehmender Herablassung auf Russland blicken.
Im Ersten Weltkrieg standen sich das Deutsche Reich und Russland als erbitterte Feinde gegenüber. Propagandistische Darstellungen beherrschten die Öffentlichkeit in beiden Ländern. "Jeder Schuss ein Russ" hieß es auf Bildpostkarten, die Soldaten millionenfach von der Front in die Heimat sandten. Die russischen Soldaten wurden auf den Abbildungen als unzivilisierte und grausame Barbaren verunglimpft.
Die russische Oktoberrevolution und ihre Folgen bildeten den Fixpunkt für die Entwicklung der deutschen Russlandbilder im 20. Jahrhundert. Von den einen als Hoffnungszeichen für eine bessere Welt, von den anderen als Schreckensszenario für das eigene Land interpretiert, lieferte der kommunistische Umsturz allen politischen Richtungen Material für ihre jeweiligen Russlandvorstellungen. Während auf der politischen Rechten Zähne fletschende Bestien und unter der von Kommunisten geschwungenen Knute - früher ein Symbol der Zarenherrschaft - leidende Menschen die Bilder von Russland beherrschten, lieferte die Revolution für die Kommunisten das Material für optimistische Visionen einer glücklichen sowjetischen Gesellschaft. Die nationalsozialistische Propaganda knüpfte an bereits lange existierende Feindbilder an, radikalisierte diese zunächst in der Propaganda und setzte sie schließlich von 1941 an im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um.
Im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Feindbildes stand seit der Frühzeit der Bewegung die Konstruktion des "jüdischen Bolschewismus", der die gesamte europäische Zivilisation bedrohe. Der Russe galt als "Untermensch": 27 Millionen Sowjetbürger fielen dem auf den nationalsozialistischen Hassbildern basierenden Krieg zum Opfer. Allein 3,3 Millionen der insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben in deutschen Lagern.
Nach 1945 waren die Russlandvorstellungen im geteilten Deutschland sehr gegensätzlich. Im Westen dominierte zunächst in fast allen politischen Lagern das traditionelle Feindbild. In den frühen Jahren der Bundesrepublik warb etwa die CDU auf Wahlplakaten mit der Darstellung eines roten, nach Westeuropa greifenden Monsters mit asiatisch anmutenden Gesichtszügen für eine kompromisslose Haltung gegenüber der Sowjetunion. Erst in den späten 1960er-Jahren führten die Entspannungspolitik und wachsende politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zur Abschwächung des Feindbildes.
In der DDR wurde dagegen unter der Parole von der "deutsch-sowjetischen Freundschaft" ein idealisiertes, dabei oft auch durch traditionelle Klischees beeinflusstes Bild verbreitet. Auf propagandistischen Plakaten, in Büchern und Filmen erschienen dabei die "großen Brüder" aus der Sowjetunion immer ein wenig größer, optimistischer und glücklicher als etwa der sozialistische Arbeiter aus der DDR. Abseits der Propaganda variierte das Bild: Neben der verbreiteten Ablehnung der sowjetischen Besatzer und deren Aufgabe, die SED-Herrschaft zu sichern, stand die Faszination für die fremde Kultur und Landschaft, phasenweise dienten sowjetische Dissidenten der DDR-Opposition als Vorbilder.
Der Amtsantritt von Michail Gorbatschow 1985 als sowjetischer Staats- und Parteichef löste in Deutschland eine vorher und nachher nie wieder erreichte Begeisterung für Russland oder die Sowjetunion aus. Die Hoffnung auf ein Ende des Ost-West-Konflikts durch die Reformen in der Sowjetunion ließen Gorbatschow, dessen Auftreten überhaupt nicht zum verbreiteten Bild russischer Despoten zu passen schien, ungeheuer populär werden. Als Folge dieser Begeisterung verbreiteten sich auch russische Symbole in Konsum und Kultur - die kyrillische Schrift wurde, in den Jahrzehnten zuvor undenkbar, zum witzigen Modeaccessoire.
Die Euphorie der Wendezeit ging in den folgenden Jahren bald in eine Phase der Normalisierung über, die für das deutsche Russlandbild im 20. Jahrhundert bis dahin völlig untypisch war. Andere Seiten Russlands werden nun entdeckt. Zugleich leben in der Öffentlichkeit, beispielsweise im Zusammenahng mit der Kritik an antidemokratischen Tendenzen im gegenwärtigen Russland, immer wieder alte Klischees auf - nicht immer sind sie so freundlich gemeint wie der Verweis auf "russische Kälte" und "russische Seele" bei einer Fußballübertragung.
Philipp Springer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Museum, Andrea Moll ist Osteuropahistorikerin. Sie sind Kuratoren der Ausstellung "Unsere Russen - Unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000".