Medien
Lenger und Nünning über Entwicklung und Wirkung
Es war bizarr: Menschentrauben vor Bildschirmen so breit wie zwei Fahrspuren, auf denen andere Menschentrauben zu sehen waren, die in Wirklichkeit nur ein paar hundert Meter vor ihnen standen. Wer an jenem Juliabend zur Rede Barack Obamas an die Berliner Siegessäule gekommen war, versuchte, einen Hauch von Unmittelbarkeit zu erhaschen - zur Not via Leinwand.
"Ereignisse geschehen nicht, Ereignisse werden gemacht", hält Carola Dietze gleich zu Beginn ihres Aufsatzes im Sammelband "Medienereignisse der Moderne" fest. Letztere seien "Schlüsselereignisse, die einen Prozess gesamtgesellschaftlicher Kommunikation auslösen", definiert Herausgeber Friedrich Lenger vom Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität. Zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Ansgar Nünning hat er Beiträge über Berichterstattung von Februarrevolution, Untergang der Titanic, Olympia 1936 bis hin zum Irakkrieg zusammengetragen. Da der Band chronologisch aufgebaut ist, ist die Entwicklung über 150 Jahre deutlich abzulesen, stets gekoppelt an das Fortschreiten der technischen Standards: Während die Kunde vom Erdbeben in Lissabon 1755 erst zwei Wochen später London erreichte, wusste man in Köln 1848 bereits im Laufe von zwei Tagen vom Ausbruch der Pariser Revolution; und als John F. Kennedy 1963 ermordet wurde, war diese Information binnen weniger Stunden um den ganzen Globus gedüst.
Die medialen Meilensteine des Buchs sind geschickt ausgewählt, das thematisch breit gefächerte Portfolio der Mediengeschichten ist durchweg erhellend. So divers die Aufhänger der Aufsätze sind, die politische wie gesellschaftliche Wirkkraft jener medialen Performanz ist unübersehbar. Medien und Politik instrumentalisierten einander von Anfang an, mal explizit gesteuert, mal eigendynamisch - dieser rote Faden macht das Buch überzeugend. Der Höhepunkt des Sammelbandes widmet sich dem Höhepunkt jener synchronisierten Welt-Zuschauerschaft: der Mondlandung. Fein und gewitzt argumentiert der Medienphilosoph Lorenz Engell, wie sich Mondmissionen und mediales Dispositiv gegenseitig bedingten, eingebettet in die Politik des Kalten Krieges. Die Mattscheibe wird bei ihm nicht weniger als der "Inbegriff für einen selbst geschaffenen, künstlichen Mond".
Die Realität des Mondes im Fenster und auf dem Bildschirm ist notgedrungen zweierlei: "Das Fernsehen - und nicht: der Weltraum - war der Ort, an dem das Apollo-Experiment stattfand." g
Medienereignisse der Moderne.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008; 216 S., 39,90 ¤