Roman
Ein literarisches Denkmal für Vedran Smailovic - den Cellisten von Sarajewo
Die jüngste Geschichte von Sarajevo ist untrennbar mit Leid, Not und Zerstörung verknüpft. Insgesamt 1.425 Tage und somit fast vier Jahre dauerte die Belagerung durch serbische Soldaten und Freischärler in den 1990er Jahren. Vieles, was zuvor als selbstverständlich galt, war nun ein kostbares Gut. In der von der Außenwelt abgeriegelten Stadt gab es keine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, nur selten Strom und auch die Wasserversorgung war abgeriegelt. Noch dazu wurde die Stadt aus den Bergen Tag und Nacht mit Granatfeuer unter Beschuss genommen, und Heckenschützen verrichteten ihr grausames Werk.
In diesem Klima von Angst und Schrecken stand am 27. Mai 1992 eine Gruppe von Einwohnern auf dem Markt an der Vase Miskina um Brot an. Genau um vier Uhr nachmittags schlugen dort mehrere Mörsergranaten ein. Die schreckliche Bilanz: 22 Tote und mindestens 70 Verletzte.
In den folgenden 22 Tagen spielte der Cellist Vedran Smailovic an dieser Stelle zu Ehren der Opfer Tomaso Albinonis Adagio in g-Moll. Diese kurze Episode aus dem bosnisch-serbischen Bürgerkrieg dient Steven Galloway als Ausgangspunkt für seinen Roman "Der Cellist von Sarajevo". Ein Stück, bei dem der tägliche Kampf ums Überleben der Belagerten thematisiert wird. Im Mittelpunkt der Handlung stehen drei Personen. Der 64-jährige Dragan arbeitet in einer der wenigen funktionierenden Bäckereien der Stadt. Durch den Krieg zermürbt ist er nervlich am Ende. Der nachdenkliche Kenan hingegen muss sich alle paar Tage auf den gefährlichen Weg durch die zerbombten Häuser- und Straßenschluchten machen, um Wasser zu holen. Schließlich gibt es da eine junge ehemalige Studentin, die früher als Sportlerin und jetzt als Heckenschützin ihr Gewehr schultert. Wegen ihrer Schießkünste wird sie Strijela, Pfeil, genannt. Ihr wichtigster Auftrag: Den Cellisten vor feindlichem Beschuss zu schützen.
Was wollte der Cellist mit seiner Musik bewirken? Die Frage stellt sich Galloway und setzt mit seiner Antwort Smailovic ein literarisches Denkmal: "Die Häuser hinter dem Cellisten erstehen wieder zu alter Pracht. Die Narben, die Kugeln und Splitter gerissen haben, werden mit Putz und Farbe überdeckt, und in den Fensterscheiben spiegelt sich funkelnd die Sonne. Die Pflastersteine auf der Straße fügen sich wieder zusammen und richten sich aus. Die Menschen rundum straffen sich, ihre Gesichter werden fülliger, rosiger. Die zerschlissenen Kleidungsstücke erneuern sich, werden farbiger, glatter. Kenan sieht, wie die Wunden der Stadt rundum verheilen." Seine Musik soll also als Symbol gegen den Irrsinn des Krieges verstanden werden. Hoffnung, Trost und Zuversicht. Das schenkte der Cellist nach der Ansicht des Autors den Bürgern. Sie konnten den Kriegsalltag vergessen und flüchteten sich in eine heile, wenn auch nicht mehr existente Welt - in die Welt ihrer Träume.
Dem 1975 in Vancouver geborenen Galloway, der nach "Ascension" und "Finnie Walsh" nun seinen dritten Roman vorlegte und erstmals auf deutsch publiziert wurde, verknüpft gekonnt die Schicksale der Handelnden. Immer wieder streifen sich die in Einzelkapiteln erzählten Lebensgeschichten. Durch geschickte Rückblenden erfährt der Leser, was sie bewegt, ihre Ängste und Sorgen, aber auch Hoffnungen und Wünsche. So entsteht im Laufe des Buches ein faszinierendes Psychogramm der einzelnen Charaktere.
Nicht zu vergessen: Die grausame Realität des Krieges, die Zerstörungswut der Belagerer oder das Schicksal der kriegsgeplagten Bevölkerung kommt während all dem nicht zu kurz. Bewegend und ergreifend, wie nur das wahre Leben sein kann, erzählt der kanadische Schriftsteller in einem ansprechenden zwischen Fiktion und Tatsachenbericht changierenden Ton. Dabei ist Steven Galloway ein eindringliches, schauriges und zugleich spannendes Buch mit kraftvollem Ende über den Kriegsalltag in Sarajevo gelungen.
Der Cellist von Sarajevo. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2008; 240 S., 19,95 ¤