Verfassungsgericht
Der EU-Reformvertrag sorgt für mehr Demokratie, sagen die einen. Andere befürchten Entstaatlichung
Es war sogar in Klammern gesetzt, dieses merkwürdige Wort, das ziemlich versteckt in der dreiseitigen Tagesordnung des Bundesverfassungsgerichts stand. Und doch kreisten in der Anhörung über den Vertrag von Lissabon die Diskussionen an zwei langen Verhandlungstagen fast nur um diesen Begriff - "Entstaatlichung". Die Richter des Zweiten Senats setzten dahinter ein gedankliches Fragezeichen, während die Kläger den Begriff längst mit einem dicken Ausrufezeichen lasen: Wird "Lissabon" in Kraft gesetzt - so ihr Drohszenario -, ist es mit der Souveränität des deutschen Staats zu Ende. Dann regiert unwiderruflich Europa.
Es war also eine historische Verhandlung, die am 10. und 11. Februar am Karlsruher Schlossplatz stattfand, im Sitzungssaal des Gerichts, vor dem neben der Bundesflagge auch die europäische Fahne weht. Zwar hängt es nicht allein an Deutschland, ob der Vertrag, mit dem sich die auf 27 Mitglieder angewachsene EU ihre Handlungsfähigkeit bewahren will, zum Anfang des kommenden Jahres in Kraft treten kann. Irland wackelt, dort wird das Volk wohl im Oktober erneut abstimmen, Tschechien mit einem zaudernden Parlament und einem europa-kritischen Präsidenten wackelt ebenfalls, auch Polen hat noch nicht ratifiziert. Dennoch, würde Deutschland - zusammen mit Frankreich das Zugpferd der europäischen Einigung - auf Geheiß seines Verfassungsgerichts den Vertrag stoppen, wären die politischen Folgen unabsehbar. Bei einem Veto halte er einen neuen Anlauf auf zehn Jahre hinaus für ausgeschlossen, mahnte Elmar Brok, altgedienter EU-Parlamentarier, die Karlsruher Richter.
Entstaatlichung also: Wie misst man, ob ein Staat noch ein Staat ist oder nur noch eine leere Hülle? Ist die schiere Quantität entscheidend - etwa die Jahresproduktion von 20.000 Seiten EU-Recht, die Franz Ludwig Graf von Stauffenberg ins Feld führte? Der Sohn des Hitler-Attentäters, einstmals CSU-Abgeordneter im EU-Parlament, steht in einer illustren Reihe von Klägern. Das Spektrum reicht vom notorischen EU-Kritiker Peter Gauweiler (CSU) über Klaus Buchner, den Vorsitzenden der öko-konservativen ÖDP, bis zu Oskar Lafontaines Linksfraktion.
Wie weit Deutschland schon "entstaatlicht" ist, darüber ließ sich erwartungsgemäß keine Einigkeit erzielen - die Angaben, wie viele Gesetze vom EU-Recht beeinflusst sein sollen, reichen von 6 bis 80 Prozent. Auch das Bild von der Salami, von der schon zu viele Scheiben abgeschnitten sind, gab verfassungsrechtlich eher wenig her: Die Argumentation, dass Karlsruhe exakt bei einer "Halbteilung" der Wurst einschreiten müsse, hielt Richter Udo Di Fabio nicht für überzeugend. Entscheidend sei ohnehin der Inhalt, sekundierte sein Kollege Herbert Landau. Worauf der CSU-Abgeordnete Thomas Silberhorn entgegnete: "Es kommt bei der Salami darauf an, wer das Messer führt."
Das Messer - darüber herrschte zwischen Klägerseite und den Vertretern von Bundesregierung und Bundestag sogar weitgehend Einigkeit - das Messer führt oft genug der Europäische Gerichtshof (EuGH). Während in Karlsruhe gerade dessen allzu EU-freundliche Rolle kritisiert wurde, schwappte ein neuer Beleg dieser Luxemburger Salamitaktik heran. Der EuGH hatte nämlich die umstrittene EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung bestätigt - obwohl eine EU-Zuständigkeit auf äußerst dünnem Eis ruht: Die Befugnis zum massenhaften Sammeln von Telefon- und Internet-Verbindungsdaten - wiewohl zur Terrorbekämpfung gedacht - war von der EU als Maßnahme zum besseren Funktionieren des Binnenmarkts etikettiert worden. Dafür reicht eine Mehrheitsentscheidung im Europäischen Rat; für die Terrorbekämpfung wäre dagegen ein einstimmiger Rahmenbeschluss nötig gewesen. "Ein eklatanter Missbrauch und die Usurpation einer Kompetenzgrundlage", schimpfte der Freiburger Professor Dietrich Murswiek, der den klagenden CSU-Abgeordneten Gauweiler vertritt.
Der Vorwurf, der EuGH verstehe sich allzu sehr als "Motor der Integration", ist nicht neu. Im Maastricht-Urteil 1993 hatten sich die Karlsruher Richter eine Wächterfunktion vorbehalten: Alle Normen, die über die Brücke von Europa nach Deutschland wollen, müssen an einem Kontrollhäuschen vorbei, in dem das Bundesverfassungsgericht sitzt. Sollte die EU ihre Zuständigkeiten überschreiten, würden die Richter die Schranke herunterlassen, so lautete die Ansage. Der im Verfahren federführende Udo Di Fabio, ein diskursfreudiger Konservativer, machte keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber Brüsseler Zentralismus und Machthunger: "Ist dieser Gedanke des ,Immer mehr' in der Tendenz nicht freiheitsgefährdend?", lautete seine eher rhetorische Frage.
Die Kläger wollten nun glauben machen, mit dem Vertrag von Lissabon würden die deutschen Verfassungsrichter entmachtet, Brüsseler Kompetenzen kontrolliere fortan allein der EuGH. Der Bevollmächtigte des Bundestags, der eloquente Berliner Europarechtler Ingolf Pernice, widersprach entschieden: Karlsruhe sei auch nach "Lissabon" im Spiel; "es ist gut, dass die Mitgliedstaaten eine solche letzte Kontrollfunktion haben", versicherte er den durchaus machtbewussten Richtern, die eine Vertreibung aus ihrem Kontrollhäuschen wohl nicht kampflos hinnehmen würden. Bei Vorratsdatenspeicherung könnte es sogar zum ersten Konflikt kommen; der Fall liegt bereits in Karlsruhe.
Der zweite Streitpunkt der Karlsruher Anhörung war das komplizierte Verhältnis der Europäischen Union zur Demokratie, ein echter Dauerbrenner der EU-Diskussion. Die Demokratie sei die große Verliererin des Lissabon-Vertrags, behaupteten die Kläger. Weil der Bundestag nicht wirkungsvoll an der EU-Gesetzgebung mitwirken könne, und auch, weil das EU-Parlament kein eigenes Gesetzes-Initiativrecht habe und überhaupt ziemlich undemokratisch gewählt werde. Was sowohl Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) als auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nachdrücklich bestritten: "Der Vertrag von Lissabon stärkt die demokratischen Grundlagen der Europäischen Union nachdrücklich."
Was stimmt nun: Hilft das Vertragswerk den deutschen Parlamentariern oder werden sie ausgebootet? Es war der starke Auftritt des Abgeordneten Jerzy Montag, der auf die Richter sichtlich Eindruck machte. Der Rechtspolitiker von Bündnis 90/Die Grünen wusste nämlich, dass der Bundestag in Karlsruhe einen schlechten Ruf loswerden musste. Einen Eindruck, den zwei seiner Kollegen vier Jahre zuvor hinterlassen hatten - ebenfalls vor dem Zweiten Senat. Damals ging es um den von Karlsruhe letztlich gekippten EU-Haftbefehl. Siegfried Kauder (CDU) und Hans-Christian Ströbele (Grüne) gestanden damals den Richtern kleinlaut, dass sie die europäischen Vorgaben für unantastbar gehalten und das Gesetz deshalb mehr oder weniger unbesehen durchgewunken hätten.
Mit ansteckendem Enthusiasmus versicherte Jerzy Montag, Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht, den Richtern, dass die EU-Gläubigkeit der Parlamentarier Geschichte sei. Inzwischen seien die Abgeordneten informiert, sie mischten sich ein, zögen EU-Themen an sich. Auch Gunther Krichbaum (CDU), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, wehrte sich vehement gegen das Bild des europahörigen Abgeordneten. Inzwischen seien Berliner Parlamentarier mit den Kollegen in Brüssel, aber auch in anderen Mitgliedstaaten vernetzt. Mit "Lissabon", darin waren sich beide einig, werde der Bundestag gestärkt: "Nationale Parlamente werden erstmals als Teil der demokratischen Struktur in Europa anerkannt", insistierte Krichbaum.
Wird Karlsruhe den Vertrag von Lissabon also passieren lassen? Versehen mit ein paar Mahnungen gen Brüssel, nicht in den Gefilden der Mitgliedstaaten zu wildern und die Demokratie noch etwas auszubauen? So wie damals im Maastricht-Urteil von 1993, als Karlsruhe bellte, aber nicht zubiss?
Als Verfassungsgericht-Vizepräsident Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats, am 11. Februar um 18.20 Uhr ermattet den Verhandlungsmarathon beendete, herrschte zwar der Eindruck vor, das Gericht werde das mühsam ausgehandelte Vertragswerk wohl nicht an die Wand fahren. Nach dem Scheitern der EU-Verfassung in den Volksabstimmungen Frankreichs und der Niederlande wäre ein Nein für den Vertrag von Lissabon womöglich fatal, das wissen auch die Verfassungsrichter.
Nur: Wie ließe sich die von den Klägern beschworene "Hydra" Brüssel bändigen, ohne Deutschland in die Rolle des Blockierers zu bringen? Ausgerechnet Deutschland, maßgeblicher Motor der europäischen Einigung. Das Land, deren Verfassungsautoren vor 60 Jahren sogar in die Präambel des Grundgesetzes hineinschrieben, was sie aus den Verheerungen der Nazi-Diktatur gelernt hatten - "vom Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".
Die Antwort könnte im Wörtchen Parlamentsvorbehalt liegen. Denn was dem Gericht unangenehm auffiel, waren Artikel im Vertrag, mit denen der Europäische Rat seine Zuständigkeiten ausweiten kann. Zum Beispiel im Strafrecht, ohnehin eine sensible Materie, die seit jeher zum Kernbereich nationaler Gesetzgebung zählt, wie Richter Landau, der einzige gelernte Strafrechtler im Senat, anmerkte. Dort gibt es ein paar EU-Zuständigkeiten für schwere grenzüberschreitende Kriminalität - die die EU allerdings mehr oder minder in Eigenregie ausdehnen könnte. Könnten solche schleichenden Machterweiterungen, so wurde am Rande der Anhörung spekuliert, nicht an die Zustimmung des Bundestags und des Bundesrats geknüpft werden?
Der Charme einer solchen "kleinen Lösung": Die Verfassungsrichter könnten ihre Vorgaben auf die nationale Ebene begrenzen. Für welche EU-Mitentscheidungen sich die Regierung das Plazet des Parlaments holen muss, lässt sich innerdeutsch regeln. Der Lissabon-Vertrag selbst bliebe unangetastet und könnte vom Bundespräsidenten Horst Köhlert ratifiziert werden; er hat das Vertragsgesetz zwar gebilligt, seine Unterschrift unter die Ratifizierungsurkunde aber auf Bitten des Verfassungsgerichts zurückgestellt. Zugleich wäre erreicht, was auch die Kläger wünschen - Europa würde ein klein wenig demokratischer.