Es ist Donnerstag, Punkt 8.30 Uhr und für wenige Minuten kehrt der Deutsche Bundestag ins Rheinland zurück. Die Glocken des Kölner Doms beginnen zu läuten. Allerdings kommt ihr Klang vom Tonband, ausgelöst von einem Saaldiener im Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes. Wie jeden Donnerstag und Freitag während der Sitzungswochen ruft das Geläut zur Andacht, die in zehn Minuten beginnen wird.
Warum die Glocken des Kölner Doms erklingen, das weiß niemand mit Sicherheit zu sagen. Vielleicht fiel die Entscheidung schon unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer. Er war vor dem Zweiten Weltkrieg Oberbürgermeister von Köln und seiner Stadt sehr verbunden. Doch das ist nicht mehr als Spekulation. Verbürgt ist hingegen, dass die Andachten im Deutschen Bundestag so alt sind wie das Parlament selbst. Bereits in Bonn trafen sich die Parlamentarier morgens zum Gebet.
Mit dem Umzug nach Berlin wurde für die Andachten ein Ort geschaffen, an dem Stille und Kunst eine Symbiose eingehen. Wer die hohe, schwere Holztür wenige Meter vom Plenarsaal entfernt hinter sich schließt, lässt das politische Alltagsgeschäft für einige Minuten hinter sich. Unaufdringlich und doch eindringlich schaffen die Werke des Künstlers Günther Uecker in ihren Erdfarben eine Atmosphäre der Ruhe. Seine sieben an die Wand gelehnten Holzbildtafeln, bearbeitet mit Steinen, Erde, Stoff, Asche und Nägeln, ziehen die Blicke auf sich, ohne den Betrachter abzulenken - ein perfekter Hintergrund für meditative Momente. Eine offene Zwischenwand lässt warmes Licht indirekt in den Raum fallen, es erhellt den schlichten Granitaltar.
Dies ist ein Ort, an den sich Menschen aller Glaubensrichtungen zurückziehen können, um der Hektik des politischen Betriebs für einige Momente zu entfliehen. Zwar ist die christliche Symbolik des Kreuzes in einigen von Ueckers Werken zu erkennen, aber der Andachtsraum ist bewusst interkonfessionell gestaltet: Die Stufe auf der rechten Raumseite verläuft nach Osten und gibt Muslimen eine Orientierung für ihr Gebet gen Mekka. Häufig geschieht es nicht, dass ein Muslim hier seinen Gebetsteppich ausrollt. Doch die Saaldienerin Annette Kipp-Sandherr erinnert sich an eine muslimische Praktikantin, die den Andachtsraum für ihr Gebet nutzte.
Seit vielen Jahren bereitet die Saaldienerin den Andachtsraum "mit großer Freude" vor, wie sie sagt. Sie stellt das Holzkreuz auf den Altar, legt die von ihr vorbereiteten Zettel mit den Liedtexten und den Psalmen auf den Holzstühlen aus und begrüßt die Besucher. Andächtig sitzen sie in den fünf Stuhlreihen, stimmen in ein Lied ein, bevor sie sich gute zehn Minuten später wieder auf den Weg machen. Hinter der großen Tür wartet der Alltag: In wenigen Minuten beginnt die Debatte im Plenum.
Es ist ein relativ konstanter Kreis von Parlamentariern und Mitarbeitern des Parlaments, die sich früh morgens hier einfinden. Einer von ihnen ist der FDP-Abgeordnete Patrick Meinhardt. "Hier kann ich zur Ruhe kommen und Ruhe ist ein wichtiger Kraftquell für den politischen Alltag", sagt der Liberale. Zudem biete die Andacht die Chance, mit anderen den Tag in Gemeinschaft zu beginnen. "In diesen zehn Minuten finden wir uns unabhängig von unserem Parteibuch auf unserem christlichen Fundament zusammen", sagt Meinhardt, der sich auch aktiv an der Gestaltung der Andachten beteiligt.
Abgeordnete aller Fraktionen bereiten reihum jeweils viermal im Jahr kleine Predigten vor und tragen sie während der Morgenandachten vor. Das "Rahmenprogramm" wird im jährlichen Turnus abwechselnd von der katholischen und der evangelischen Kirche organisiert, die Vertreter der Kirchen schlagen den Abgeordneten jeweils passende Liedtexte und Psalmgebete vor. Die Predigten müssen kurz sein, die Zeit ist knapp. Doch: "Sich an die Zeitgrenze zu halten ist für Politiker gar nicht so einfach", erzählt Kipp-Sandherr lachend.