GESCHICHTE
Wie beeinflusst das Erbe der DDR-Staatssicherheit die Bundesrepublik heute? Zwei Bücher versuchen eine Antwort
Am 9. August 1931 wurden am Berliner Bülowplatz zwei Polizisten erschossen. Einer der Täter war gerade einmal 19 Jahre alt, Mitglied der Kommunistischen Partei und Reporter der Parteizeitung "Rote Fahne". Nach der Tat floh er aus Deutschland. An der internationalen Leninschule in Moskau wurde er für den Klassenkampf geschult, enttarnte im Spanischen Bürgerkrieg vermeintliche Verräter in den Reihen der internationalen Brigaden und stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR zum mächtigen und gefürchteten Minister für Staatssicherheit auf. Sein Name: Erich Mielke.
Dass sich Mielke nach der deutschen Wiedervereinigung vor Gericht nicht für die Verbrechen der Staatssicherheit, sondern für die sechzig Jahre zurückliegenden Morde verantworten musste, gilt den Journalisten Uwe Müller und Grit Hartmann als augenfälliger Beleg für die gescheiterte Bewältigung der DDR-Vergangenheit. Denn für die Toten an der Berliner Grenze und die unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Staatssicherheit wurde er nicht zur Rechenschaft gezogen. "Zehntausende Ostdeutsche" hätten ungläubig zur Kenntnis genommen, "dass die Machenschaften von Mielkes Terrorapparat im Verfahren keine Rolle spielten". Die Schlussfolgerung der Autoren aus einer Vielzahl von Fällen und Beobachtungen: "Die Aufarbeitung der zweiten Diktatur auf deutschem Boden ist gründlich gescheitert, der friedlichen Revolution ist die stille Restauration gefolgt".
Uwe Müller, Reporter der Tageszeitung "Die Welt", hat bereits vor vier Jahren eine Bilanz der Wiedervereinigung unter dem Titel "Supergau deutsche Einheit" vorgelegt. Damals ging es ihm um wirtschaftliche Fehler und Versäumnisse, in "Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen" um politische und historische. Versöhnlicher fällt das Buch von Müller und der Journalistin Grit Hartmann keineswegs aus.
Vier Bereiche der DDR-Aufarbeitung untersuchen die beiden Autoren: die Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Opfer, die Entwicklung von CDU, SPD und PDS/Linkspartei seit der Wende, die Elitenkontinuität bei Journalisten, Beamten und Sportfunktionären und die staatliche Erinnerungskultur. In allen Bereichen ziehen sie eine vernichtende Bilanz. Ein Versagen von Politik und Justiz machen die Autoren bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Verbrechen aus. "Nach dem Untergang der DDR wollten es die Deutschen besser machen als fünfundvierzig Jahre zuvor", lautet ihre These. Doch dieses ehrgeizige Ziel sei in keiner Hinsicht erreicht worden: Eine aufklärerische Wirkung wie die Nürnberger Prozesse oder die Auschwitz-Prozesse hätten die Verfahren gegen Mielke, Honecker und Co. nie entfalten können. Um die Gesamtverantwortung der DDR-Spitze sei es nie gegangen; stattdessen hätten sich die Staatsanwälte auf gut dokumentierte Verbrechen beschränkt, deren Strafbarkeit weitgehend feststand. Das war vor allem die Tötung von "Republikflüchtlingen" an der innerdeutschen Grenze. Auch organisatorische Versäumnisse sehen Müller und Hartmann: Während für die Verfolgung der NS-Verbrechen 1958 die Ludwigsburger Zentralstelle eingerichtet wurde, sei eine entsprechende Ermittlungsbehörde für die Aufklärung der DDR-Systemkriminalität nie eingerichtet worden. Die neu formierte Justiz in den neuen Bundesländern war von der Aufgabe in vielen Fällen überfordert, die Aufklärung sei an mangelnden Ressourcen gescheitert. "Eine solche kalte Amnestie ist für jeden Rechtsstaat eine Bankrotterklärung", lautet das Resumée der Autoren.
Für die Dilemmata des Rechtsstaates bringen sie wenig Verständnis auf: Dass das Verfassungsgericht des Landes Berlin den Prozess gegen den ehemaligen SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker wegen dessen Krebserkrankung aussetzte, schreiben die Journalisten allein dem Drang des Gerichtes nach Aufmerksamkeit zu. Harsch fallen die Urteile von Müller und Hartmann aber nicht nur hier aus. Auch der Entwicklung der Parteien und Zeitungen in Ostdeutschland und sogar der Gauck-/Birthler-Behörde gewinnen sie wenig Positives ab. Sie tragen viele bereits bekannte Fakten - in manchen Fällen Vermutungen - zusammen, die in dieser geballten Form aber eine eindrucksvolle Wirkung entfalten. Eine besondere Stärke des gut recherchierten, manchmal übertrieben meinungsstarken Buches ist der kritische Blick nach Osten wie nach Westen: Der Zusammenbruch der DDR habe eben auch die erschüttert, die sich im Westen längst mit ihrer Existenz arrangiert hatten. Auch bei der Betrachtung der Parteien kneifen die Autoren weder das rechte noch das linke Auge zu. Im Kapitel "Die retrograde Amnesie der Unionsfreunde" zeichnen sie nach, wie ehemalige Mitglieder von Blockparteien wie der Ost-CDU oder der Bauernpartei nach der Wiedervereinigung in der Gesamt-CDU Karriere machten. Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich trat beispielsweise noch im März 1987 der Ost-CDU bei und besuchte zwei Jahre später einen "Lehrgang für bestätigte Reservekader für Wahlfunktionen", bevor er stellvertretender Vorsitzender des Kreisrates Kamenz wurde. An den Lehrgang wollte er sich später nicht mehr erinnern, seinen Beitritt zur Ost-CDU datierte er für seine Biografie als Abgeordneter des Europäischen Parlamentes auf das Revolutionsjahr 1989 nach. Erst nach Berichten in der Presse bekannte er sich zu diesem Teil seiner Biografie. Kritisch ist auch der Blick nach links: Bezüglich der Linkspartei zeichnen die Autoren nicht nur die Stasi-Verstrickungen von Abgeordneten nach, sondern beschreiben auch eine gewisse Nähe zwischen der Partei und Organisationen ehemaliger Stasi-Mitglieder: So hätte in Brandenburg der Verein Isor, der sich für höhere Renten für ehemalige NVA- und Stasi-Mitarbeiter einsetzt, die Büros der Linken für ihre Treffen genutzt. Im Kapitel zur SPD wird nicht nur daran erinnert, dass Oskar Lafontaine schon vor dem Mauerfall für eine "Begrenzung des Zuzugs von DDR-Bürgern" plädierte und noch 1990 die Wirtschafts- und Währungsunion ablehnte. Im Jubeljahr 2009 wird auch am Mythos gekratzt: Wie die Autoren recherchiert haben, sagte Willy Brandt am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus zwar viele erbauliche Dinge, der legendäre Satz "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" fiel aber zumindest bei diesem Anlass nicht. Brandt ließ ihn erst später in die Rede hineinredigieren.
Während Müller und Hartmann beim Blick auf das Erbe der DDR das große Ganze im Blick haben, kommt der Journalist Jürgen Schreiber den Tätern und Opfern der Staatssicherheit ganz nah. In seinem Band "Die Stasi lebt. Berichte aus einem unterwanderten Land" veröffentlicht er Reportagen, die in den Jahren 1996 bis 2007 vor allem im Berliner "Tagesspiegel" und im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" erschienen sind. Der Titel führt jedoch in die Irre, denn nur eine Reportage handelt von ehemaligen Stasi-Offizieren, die sich heute wieder in Vereinen organisieren. Die lesenswerten, teilweise leider schon etwas angestaubten Geschichten erzählen von bekannten und unbekannten Menschen, deren Leben von der Stasi beeinflusst wurde: Von einer Frau, die ihren Vater an die Stasi verriet; von einem Mann, der Helmut Kohl bespitzelte. In einer der aufwühlendsten Reportagen geht Schreiber dem Verdacht nach, dass der mit 49 Jahren an Leukämie verstorbene Schriftsteller Jürgen Fuchs während seiner DDR-Haft radioaktiv verstrahlt worden sein könnte. Schreiber trifft einen früheren DDR-Wissenschaftler, der eine Studie zu radioaktiver Verstrahlung durchführte; einem Bürgerrechtler, der im Geraer Gefängnis (wo Jürgen Fuchs einsaß) einen verdächtigen Röntgenstrahler fand, und Fuchs' Jugenddekan, der nach einem Beweis für die Bestrahlung von Häftlingen sucht. Das Rätsel um Fuchs? Krankheit kann auch Schreiber nicht lösen; seine Reportage zeigt aber, wie schwierig die Suche nach der Wahrheit hinter Akten und Vermutungen immer noch ist.
Vorwärts und vergessen! Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur.
Rowohlt Berlin, Berlin 2009; 316 S., 16,90 ¤
Die Stasi lebt. Berichte aus einem unterwanderten Land.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2009; 224 S., 8,95 ¤