EUROPA
Eigentlich herrscht in Brüssel Sommerpause. Hinter den Kulissen wird aber um Posten und Positionen geschachert
Dem Chef der Europäischen Kommission steht ein unruhiger Sommer bevor. Während die Kommissare und ihre Beamten bereits die Koffer packen und innerlich auf sechs lange Urlaubswochen eingestimmt sind, muss EU-Präsident José Manuel Barroso alles tun, um politisch im Gespräch zu bleiben. Der Europäische Rat hatte ihn auf dem Gipfel im Juni einstimmig zum Kandidaten für eine weitere Amtszeit benannt. Die Regierungschefs machten dann Druck auf ihre gerade frisch gewählten EU-Parlamentarier, die Personalie noch vor der Sommerpause in der konstituierenden Sitzung Mitte Juli abzunicken. Die aber wollten sich nicht drängen lassen.
Die Staatschefs haben es eilig, weil sie genau wissen, dass der Portugiese nicht der Herzenskandidat von Rat und Parlament, sondern der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den sich die EU-Staaten verständigen können. Das war bei seiner ersten Wahl vor fünf Jahren schon genauso. Damals hatte der Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker abgewunken und Barroso machte als Verlegenheitskandidat das Rennen.
In den fünf Jahren Amtszeit ist es dem ehemaligen portugiesischen Premier nicht gelungen, seine Wähler, also die Staatschefs und die Europaabgeordneten, für sich zu begeistern. Wenn nun die Abgeordneten in der langen Sommerpause Zeit zum Nachdenken haben, könnten sie sich Alternativen zu Barroso überlegen, so die Befürchtung im Rat und in Barrosos eigener Partei, der EVP. Doch Sozialisten, Liberale und Grüne weigerten sich, das Thema in der konstituierenden Sitzung am 14. Juli auf die Tagesordnung zu setzen.
Stattdessen stellten sie konkrete Forderungen an den Kandidaten. Am 8. und 9. September, in der Woche vor der nächsten Plenarsitzung, soll er in Brüssel ein Regierungsprogramm für die kommenden fünf Jahre vorlegen und sich bei den Fraktionen erst einmal vorstellen.
Nur die Linken und die Grünen sagen bereits jetzt ganz offen, dass sie Barroso nicht wählen werden, ganz egal, was er in sein Programm schreibt. Der neue grüne Co-Vorsitzende Daniel Cohn-Bendit präsentierte sogar schon einen Alternativvorschlag. Da Barroso ja ohnehin den Regierungen nach dem Munde rede, solle er doch Ratspräsident werden - ein Posten, der mit dem Lissabonvertrag neu geschaffen werden soll. "Dieser Ratspräsident ist doch, wenn Sie einen Herrn Sarkozy und eine Frau Merkel im Rat haben, ohnehin nur ein Frühstücksdirektor", spottete Cohn-Bendit. Neuer Kommissionspräsident solle Chris Patten werden, der als Gouverneur von Hongkong Format bewiesen habe.
Die Sozialisten wollen sich anhören, was der Kandidat anzubieten hat. Zumindest verlangen sie, dass er beim Entsendegesetz nachbessert, damit hohe Sozialstandards in einem Mitgliedsland nicht mehr durch Billigarbeiter ausländischer Firmen ausgehebelt werden können. Und sie fordern, dass die EU-Kommission für jeden neuen Gesetzentwurf eine "soziale Folgenabschätzung" vorlegt, die die Auswirkungen des Vorschlags auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Standards zu messen versucht.
Die Liberalen verlangen, dass sich der neue und alte Kommissionspräsident statt des bisherigen Stückwerks für eine einheitliche europäische Finanzaufsicht und eine Konjunkturpolitik aus einem Guss einsetzt. Er soll ferner deutlich ehrgeizigere Klimaziele anstreben, als von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Ein eigener Kommissar für Menschenrechte und Minderheiten soll Diskriminierung in der EU entschlossener bekämpfen. Schließlich soll die Grenzschutzagentur Frontex mehr Mittel erhalten, die Entwicklungshilfe gestärkt und der neue europäische diplomatische Dienst aus Kommissionsbeamten und nationalen Diplomaten rasch gebildet werden.
Diese Forderungen sind so allgemein formuliert, dass sie durchaus mit den Erwartungen der Sozialisten vereinbar wären. Nun aber meldet sich Barrosos eigene politische Partei, die EVP, zu Wort.
Bei der Klausurtagung der Konservativen in Athen habe Barroso "einen schwierigen Auftritt" gehabt, kritisierte der neue EVP-Vize Manfred Weber vergangene Woche in Brüssel. "Die EVP-Handschrift seines Programms muss erkennbar sein. Das hat er in Athen noch nicht geliefert." Weber geht davon aus, dass Barrosos Wahl am 15. September auf die Tagesordnung des Plenums kommt - unabhängig davon, wie die Gespräche mit den Fraktionen ausgehen. Die Frage sei nur, ob der EU-Kommissionspräsident sein Amt mit einer satten oder einer knappen Mehrheit im Rücken antreten werde.
Die Schnittmenge zwischen den Forderungen der Konservativen und der Liberalen ist erstaunlich groß. Auch die EVP verlangt von Barroso eine stärkere europäische Bankenaufsicht. Da dürfe, sagt Weber, "die Londoner City nicht die Messlatte sein."
Die Kommission müsse außerdem Vorschläge machen, wie nach dem Ende der Wirtschaftskrise die Ausgabendisziplin wiederhergestellt und der Stabilitätspakt wieder in Kraft gesetzt werden könne. Auch die EVP will die Stellung von Frontex stärken und Europol ebenfalls aufwerten. Doch im Gegensatz zu den Liberalen macht sie sich Sorgen um die Soziale Marktwirtschaft. So müsse zum Beispiel bei WTO-Verhandlungen die soziale und ökologische Dimension stärker als bisher berücksichtigt werden. Während die Liberalen einen zusätzlichen Kommissar fordern, wollen die Konservativen einen einsparen. Sie wünschen sich, dass Erweiterung und Nachbarschaftspolitik künftig in einer Hand liegen, um privilegierte Partnerschaft zu einer echten Alternative zum Beitritt zu machen.
Trotz dieser programmatischen Gemeinsamkeiten ist die versöhnliche Stimmung, die zu Beginn der ersten Sitzungswoche herrschte, inzwischen schon wieder verflogen. Nach der Europawahl hatten Sozialisten und Konservative ein technisches Abkommen geschlossen, in dem sie sich gegenseitig Unterstützung bei der Wahl eines Parlamentspräsidenten für die jeweils halbe Legislaturperiode vereinbart hatten. Von 555 der anwesenden 713 Parlamentarier wurde der Pole Jerzy Buzek (EVP) am 14. Juli gewählt.
Auch Grüne und Liberale hatten dem Mitbegründer von Solidarnosc ihre Stimme gegeben. Sogar Lothar Bisky, neuer Vorsitzender der Linksfraktion, sicherte dem Sieger "achtungsvolle Unterstützung" zu. Die Linksfraktion hatte die einzige Gegenkandidatin ins Rennen geschickt, die Schwedin Eva-Britt Svensson, die nur 89 Stimmen erhielt.
Als dann am selben Abend die Vizepräsidenten gewählt werden sollten, war es mit der Harmonie rasch vorbei. Die drei Wahlgänge vermittelten eine Ahnung davon, wie schwierig Mehrheiten im neuen Parlament zu finden sein dürften. 14 Posten waren zu vergeben, die Fraktionen hatten ihrer Größe entsprechend 14 Kandidaten benannt. Doch der Brite Edward McMillan-Scott von der neu gegründeten "Fraktion der Konservativen und Reformer" (ECR) tanzte aus der Reihe und bewarb sich gegen den Willen seines Parteichefs David Cameron als unabhängiger Kandidat.
Im ersten Wahlgang erhielten nur drei Bewerber die erforderliche absolute Mehrheit. Sogar parteiübergreifend geschätzte Kandidaten wie die Gesundheitsexpertin Dagmar Roth-Behrend (SPE) fielen durch. Die wenigsten Stimmen erhielten der ECR-Kandidat Michal Tomasz Kaminski und die liberale Kandidatin Silvana Koch-Mehrin.
Kaminski hat sich mit seinen schwulenfeindlichen und nationalistischen Äußerungen in der vergangenen Legislalturperiode keine Freunde gemacht. Er ist ein enger Vertrauter von Polens Staatspräsident Lech Kaczynski. Koch-Mehrin wird angekreidet, dass sie im Parlament wenig präsent war, in fünf Jahren keinen einzigen Bericht verfasste, aber in den Medien viel Aufmerksamkeit auf sich zog.
Der zweite Wahlgang brachte kein anderes Ergebnis. Als die Abgeordneten spät am Abend zum dritten Mal zur Urne gebeten wurden, lag Koch-Mehrin mit 186 Stimmen knapp vor Kaminski, der 174 Stimmen erhielt. Da beim dritten Wahlgang die relative Mehrheit ausreicht, wird Kaminski also dem Parlamentspräsidium nicht angehören. Viele Abgeordnete dürften darüber erleichtert sein.
Interne Probleme bekommt nun die neu gegründete Fraktion der ECR. Sie besteht hauptsächlich aus europaskeptischen Konservativen, die sich in der europafreundlichen EVP nicht mehr zuhause fühlen. Um eine eigene Fraktion gründen zu können, mussten sie Abgeordnete aus mindestens sieben Ländern zusammenbringen. Unter anderem gewannen sie die polnischen Abgeordneten der PiS für ihre Fraktion. Als Gegenleistung sollte Kaminski Vizepräsident werden. Da er nun durchgefallen ist, mussten die Tories den Job des Fraktionsvorsitzenden an ihn abtreten, für den eigentlich der Brite Timothy Kirkhope vorgesehen war.
Für die nächste Sitzung ist neuer Streit bereits vorprogrammiert. Am 10. September erst entscheiden die Fraktionsvorsitzenden, ob sie die Wahl Barrosos ein weiteres Mal verschieben. Falls die Sozialisten sich sperrig zeigen sollten, hat der Franzose Joseph Daul, Chef der EVP-Fraktion, bereits damit gedroht, das technische Abkommen aufzukündigen und für die zweite Halbzeit der Legislatur erneut einen konservativen Kandidaten als Parlamentspräsidenten ins Rennen zu schicken.