Wer von der Fraktionsebene des Reichstagsgebäudes nach oben blickt, kann durch das gewölbte Glas die Deutschlandflagge sehen. Verzerrt sieht sie aus, und die Metallstreben versperren die Sicht. Das hat auch Ander Samson gesehen, fotografiert, und so gemeinsam mit drei anderen Stipendiaten den Fotowettbewerb des Internationalen Parlaments-Stipendiums (IPS) gewonnen.
Der 23-Jährige kommt aus Estland und arbeitet seit März mittels des IPS im Bundestag. Über den Sinn politischer Arbeit hat er sich in dieser Zeit seine Gedanken gemacht, denn er erklärt sein Fotomotiv so: "Die Flagge zeigt für mich das Streben nach einem guten Deutschland. Aber wie jeder Politiker im Bundestag weiß: Nichts ist perfekt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Probleme, dargestellt durch die Streben, das Gitter und das Verzerrte."
Mehr solle man aber nicht hineininterpretieren, sagt Ander Samson. Das alles erzählt er übrigens in flüssigem Deutsch. Schließlich studiert er zu Hause einen Master-Studiengang Übersetzen und Dolmetschen, bearbeitet juristische, wirtschaftliche und politische Texte in den Sprachen Estnisch, Deutsch und Englisch. Kein typisches Studium für einen IPS-Stipendiaten, meint Samson. Dennoch war für ihn klar: Nach Berlin muss es auf jeden Fall gehen. "Wie viele Möglichkeiten gibt es denn für mich, im Deutschen Bundestag ein Praktikum zu machen?", fragt er. "Ich müsste schön blöd sein, eine solche Chance und all diese Möglichkeiten hier auszuschlagen."
Im Bundestag arbeitet er im Abgeordnetenbüro von Jürgen Klimke (CDU) und erhält dort Einblicke in die Ausschüsse für Tourismus und wirtschaftliche Zusammenarbeit - und in die Benutzung für ihn fast schon prähistorischer Kommunikationsmittel. "Ein Faxgerät habe ich hier zum ersten Mal in meinem Leben benutzt", sagt Samson grinsend. "Und immer wird alles ausgedruckt. Bei uns in Estland laufen Wahlen und Dienstleistungen der Regierung über das Internet. Auch die Abgeordneten stimmen im Parlament per Knopfdruck ab. Da kommen die Deutschen gleich mit dem Datenschutz, aber in einem kleinen Land wie unserem funktioniert das hervorragend."
Auch dass es im Bundestag kein drahtloses Internet für Abgeordnete, Mitarbeiter und Praktikanten gibt, hat Ander Samson überrascht. "Die Abgeordneten arbeiten doch sowieso in den Ausschüssen ihre Unterlagen durch. Warum können sie das nicht gleich am Laptop tun? In Estland ist fast das ganze Land online. Ich finde, es ist inzwischen ein Menschenrecht, immer und überall ins Internet zu kommen."
Auch wenn Samson in Berlin nicht immer und überall online sein kann - wohl fühlt er sich trotzdem. "Mehr Multikulti als in Berlin geht doch kaum. Die Stadt hat doppelt so viele Einwohner wie mein ganzes Heimatland. Man muss offen sein für Neues, dann ist man in Berlin schnell zu Hause und kommt auch gerne zurück", sagt er. Das ist der Sinn des Internationalen Parlaments-Stipendiums: die Beziehungen Deutschlands mit den teilnehmenden Ländern zu fördern sowie Demokratie, Toleranz, kulturelle Vielfalt und Frieden in Europa zu festigen.
Die IPS-Stipendiaten spannen während ihres Aufenthaltes ein Netz von Kontakten um die ganze Welt: nach Georgien, Bulgarien, Kasachstan, in die USA. Samsons Faden am Netz führt ihn Anfang August wieder zurück nach Tartu, die Universitätsstadt im Südosten Estlands. Dort wird er zunächst sein Studium fortführen. Dann will er in Estland der noch jungen Demokratie nützlich sein - "nicht unbedingt als aktiver Politiker. Aber in einem Ministerium zu arbeiten, das wäre schon was".