Muslime in Deutschland
Intelligente und amüsante Betrachtungen von Navid Kermani
Es gibt da eine sehr hübsche Passage in diesem Buch - und jeder, der es bereits vor dem Sommer gelesen hat, könnte es gut schon deswegen noch einmal zur Hand nehmen. Da sinniert Navid Kermani darüber, es sei irrig zu glauben, dass Religion in Europa keine große Rolle mehr spiele. In Westeuropa, ja - aber schon in Polen oder Griechenland sähe die Lage ganz anders aus. Dort, so Kermani, werde Meinungsfreiheit noch "deutlich enger gefasst und Blasphemie von den Gerichten sehr viel ernster genommen, Künstler und Autoren, die sich über das Christentum lustig machen werden regelmäßig vor Gericht gestellt". Und dann wird eben diesem Navid Kermani nicht in den Masuren oder auf dem Peleponnes, sondern in Hessen ein staatlicher Kulturpreis aberkannt - auf Wunsch des Ministerpräsidenten und nach Protesten religiöser Führer der zwei großen christlichen Kirchen. Wegen angeblicher Gotteslästerung.
Wer das wunderbar geschriebene und erfrischend unaufgeregte kleine Buch "Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime" liest, lernt auch einiges über das Verhältnis des Autors zum Christentum - darunter, dass er einige Äußerungen des Papstes "befremdlich" findet und seine Tochter dennoch auf eine katholische Schule schickt. Vor allem aber lernt der Leser: Navid Kermani ist einer der scharfzüngigsten Schreiber, die die deutsche Schriftstellerei zurzeit aufzubieten hat. Und das gilt für die Beschreibung christlicher Riten, Bräuche und Symbole ebenso wie für islamische und alle anderen.
In der Hauptsache bringt Navid Kermani aber so treffend wie kaum jemand vor ihm eine ganz banale und doch in der Debatte selten so richtig präsente Erkenntnis auf den Punkt: "Der Muslim" existiert so wenig wie "der Islam" - und zwar nicht wegen der Plattitüde, dass Menschen nun einmal verschieden sind. Sondern weil sie immer aus vielen Teilen bestehen, sozusagen multiple Identitäten haben, erstaunlicherweise ohne dabei schizophren zu werden. "Ich bin Muslim", schreibt Navid Kermani, "aber ich bin auch vieles andere." Der Satz "Ich bin Muslim" werde "in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere - oder definiert werde". Weil er all die anderen Dinge ausblende, die Menschen prägten: "Woher sie stammen, wo sie aufgewachsen sind, wie sie erzogen wurden, was sie gelernt haben." All das sei - in einer Welt, in der die Mittelschichten in Delhi, Isfahan und Köln sich ähnlicher seien als Arme und Reiche in der selben Stadt - allemal entscheidender als diese oder jene Religion.
Wer aber ist Navid Kermani? Man könnte sagen: Ein deutscher Schriftsteller, aus seiner Heimat geflohen, ohne Wunsch zurückzukehren. Nach Siegen, wo er als Kind iranischer (Mittelschichts-)Eltern aufwuchs, zieht ihn nichts. Zu wohl fühlt er sich in Köln, gar Heimatgefühle kämen dort in ihm auf, schreibt er - ganz besonders im Stadion, wenn der FC spielt. Das sei auch so etwas, was er deutschen Politikern gern einmal erklären würde: Dass in seinem Falle nicht der Besitz zweier Ausweispapiere einen Identitätskonflikt hervorriefe. Sondern, was aber wohl niemals vorkommen dürfte, wenn der 1. FC Köln plötzlich gegen die iranische Nationalmannschaft spielen würde.
Navid Kermanis Werk ist mitnichten das erste, das sich im 21. Jahrhundert mit dem Leben zwischen den Kulturen und dem Zurechtfinden zwischen all den dazu gehörigen Zuschreibungen beschäftigt - wenn man Hölderlin so gut kennt und doch vor allem als Multikulti-Literatur-Experte angefragt wird zum Beispiel. Es ist aber eins der amüsantesten und der intelligentesten. Geschrieben von einem habilitierten Orientalisten, der noch ein ganz anderes Ziel hat als seinen Werdegang zu beschreiben. "Wer sind wir?" ist auch ein kleines und gut lesbares Lehrstück über viele Facetten des Islam - und den Umgang der deutschen Gesellschaft mit dem selben. Und es ist ein ungemein erfrischendes Plädoyer für demokratische Verhältnisse.
Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime.
Verlag C.H. Beck, München 2009, 173 S., 16,90 ¤