Förderpolitik
Berlin-Institut sorgt mit seiner jüngsten Demografie-Studie für Wirbel
Bis zum Jahr 2050 wird Deutschland nach den Prognosen des Statistischen Bundesamts fast acht Millionen Menschen weniger haben. "Das sind zusammengerechnet die Einwohner der fünf größten Städte - Berlin, München, Hamburg, Köln und Frankfurt", sagt Reiner Klingholz, Chef des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In den Städten werden die Menschen aber wohl nicht verloren gehen. Sondern in den Regionen, wo es schon seit Jahren immer leerer wird.
Klingholz fordert von der Politik, den Zahlen ins Auge zu sehen. "Doch stattdessen verlegen sich alle auf Durchhalteparolen", sagt er. Die jüngste Studie des Instituts zum demografischen Wandel und der bisherigen Förderpolitik in Ostdeutschland sorgte für kräftigen Wirbel. Sie wurde für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) verfasst - eigentlich für den internen Gebrauch. Minister Wolfgang Tiefensee (SPD) stellte sie Ende Juni dann doch einem kleinen Kreis von Journalisten vor. Allerdings musste das Berlin-Institut das brisante Papier danach wieder von seiner Website nehmen. Später stellte das Ministerium die Studie mit einem einordnenden Vorspann auf seine eigene Homepage.
Klingholz und sein Kollege Andreas Weber vertreten darin die These, die mit Steuergeldern bezahlte Förderpolitik sei im Osten, aber auch in manchen westdeutschen Regionen ins Leere gelaufen. Bevölkerungsschwund und Deindustrialisierung hätten zu "verlorenen Räumen" geführt. Der provokante Vorschlag der Forscher: Die öffentlichen Mittel sollten dort auf die notwendige Versorgung der Bevölkerung beschränkt werden. Sie raten der Politik: "Über diese existenziellen Bereiche hinaus bedeutet für diese Regionen eine Förderung verlorenen Aufwand und sollte nicht erfolgen."
Solche radikalen Konsequenzen weist Tiefensee zurück. "Wir geben keine Menschen auf, wir geben kein Dorf auf", versichert er. Es möge aus wissenschaftlicher Sicht rational erscheinen, bestimmte Regionen nicht weiter zu fördern. "Das ist für die Bundesregierung aber absolut inakzeptabel."
Doch in der Realität ist, so sieht es Klingholz, eine stillschweigende "Rückzugspolitik" schon längst im Gange. Seit 1989 seien mehr als 2.000 Schulen im Osten geschlossen worden. Ämter würden zusammengelegt, der öffentliche Nahverkehr werde eingeschränkt. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) sehe weit über die Hälfte Ostdeutschlands "von der Kaufkraftdichte als nicht mehr interessant" an. "Wenn die Wirtschaft diese Regionen abschreibt, kann die Politik machen, was sie will", sagt der Forscher. Es sei wichtig, klar zu sagen, dass die grundgesetzlich festgelegte "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" nicht mehr gewährleistet werden könne.
Die Forscher wollen keineswegs die betroffenen Regionen sich selbst überlassen. Radikales Umdenken und neue Förderwege sollten im Gegenteil die Lebensbedingungen vor Ort wieder verbessern. Ihr Vorschlag: In einem Modellprojekt sollen ausgewählte Kommunen oder Privatpersonen neue Wege ausprobieren - autarke Versorgung mit regenerativen Energien, regionale Lebensmittelwirtschaft, Zwergschulen und Teleunterricht. Vor allem müsse das Engagement der Bürger stärker gefördert werden. Denn sie sind es, so die Erkenntnis der Studie, die vielerorts gegen den Trend neue Perspektiven schafften.