Reportage
Der Landwirt lässt das Klagen sein. Als technisch hochgerüsteter Agrarmanager sucht er seine Chancen und prägt das Bild vom Bauern neu
Neigen Kühe zur Schwermut? Im verlassenen Anbindestall auf dem Schöpcherhof sieht es so aus. Die Decken hängen niedrig, die Fenster gleichen Schießscharten, die Stellplätze aus den 1960er Jahren erinnern an Verliese. "Dabei sind Kühe ganz anders", sagt Milchbauer Christoph Lüpschen, der in Lohmar südöstlich von Köln 190 Fleckviehrinder hält. "Luft brauchen sie, Luft und Licht und Platz. Sonst fühlen sie sich nicht wohl. Und nur Kühe, die sich wohl fühlen, geben ordentlich Milch." Dann weist er zu einem Durchbruch in der Wand. Man durchschreitet ihn - und befindet sich plötzlich in einer taghellen Halle vom Ausmaß einer Kathedrale. "Unser neuer Stall", sagt Lüpschen und macht eine öffnende Handbewegung. "So muss das heute aussehen."
Durch mehrere Dutzend Dachluken strömt die Morgensonne mit pathetischer Wucht und lässt die Halle wirken wie ein Erweckungsgemälde der Zeugen Jehovas. Auch die Kühe machen einen feierlichen Eindruck und bemuhen das sattgrüne Hügelpanorama des Bergischen Landes. Es taucht hinter den Riesenjalousien auf, die Lüpschen gerade elektrisch hochsurren lässt. Andere geben sich mit Genießermiene den rotierenden Bürsten von Fellputzmaschinen hin. Und wieder andere spazieren so nonchalant durch die Gegend, als seien sie keine Milchlieferanten, sondern Flaneure auf Sommerfrische. "Auf mich wirken sie eher wie Waldorfschüler", flachst der Landwirt in fröhlich schaukelndem Rheinisch und klopft auf eine mannshohe Metallkiste. "Hier. Einer unserer drei Melkroboter. Damit erziehen wir die Kühe zur Selbstständigkeit."
Die Ställe, in denen Kühe vorn an der Kette hängen und hinten mit dem Schwanz wedeln, sind auf dem Schöpcherhof genauso passé wie feste Melkzeiten. Die Kühe bewegen sich völlig frei und trotten zum Melkroboter, wenn das Euter zwickt. Oder wenn sie Appetit auf das Kraftfutter haben, das er während des Melkvorgangs spendiert. Da ihr Hunger notorisch ist, hat Lüpschen die Maschinen des Fabrikats "Merlin" so eingestellt, dass jede Kuh alle sechs Stunden gemolken wird. "Das Zeitgefühl dafür besitzen sie schon nach ein paar Tagen", sagt er. Will eine Kuh früher naschen, vertreibt sie der Apparat mit einem fies fauchenden Wind.
Gerade hat sich Kuh Nummer 118 in eine der Hightechboxen gezwängt. Die erkennt sie durch die Signale ihres Transponders - jede Kuh trägt so ein Funketikett am Vorderlauf. Zur Begrüßung lässt Merlin eine Portion Futter in den Trog rieseln. Gleichzeitig schwingt sein Arm zum Euter und wäscht ihn mit kreiselnden Bürsten. Dann betasten rote Laserstrahlen die Zitzen. Sie steuern die Melkbecher an, die sich nun mit traumwandlerischer Präzision an den Zitzen festsaugen und ihr Werk beginnen. Dabei wird die Milch nicht nur abgepumpt, sondern auch gleich analysiert. Ist eine Kuh krank und schluckt Medizin, lässt Merlin den Euterinhalt in die Gülle fließen.
Den Lohmarern war die Zaubermaschine vor acht Jahren nicht geheuer. "Das ist der Anfang vom Ende", moserte das Dorf, als damals der erste Melkroboter auf dem Schöpcherhof Einzug hielt. Mittlerweile ist in Deutschland fast jede zweite neue Melkanlage ein Roboter. In Skandinavien sind es sogar 80 Prozent.
Rund die Hälfte der früheren Melkzeit spart der promovierte Agraringenieur so ein. Was bleibt, ist die Arbeit im Stallbüro. Dort steht ein Resopaltisch mit PC, Impfbesteck und der neuesten Ausgabe des Magazins "Fleckvieh-Welt" neben einem Fass Rindersperma. Lüpschen nimmt auf einem schmutzigen Plastikstuhl Platz, klickt sich durch ein Computerprogramm und lässt Listen aus einem Drucker rattern. Es sind die Gemelke der vergangenen 24 Stunden - und seine wichtigste Informationsquelle. Durch sie erfährt er, ob die Kühe regelmäßig gemolken wurden, ob sie genug gefressen und sich ausreichend bewegt haben, ob es Auffälligkeiten bei der Milch gab.
Für solche Daten sind 120.000 Euro fällig - darunter ist ein Merlin nicht zu haben. Lohnt das bei einem Milchpreis, der auf den Stand von 1949 gefallen ist? Lüpschens Lächeln wirkt gequält. Auch er fährt derzeit Monat für Monat Tausende Euro Verlust ein. Bereut hat er die Anschaffung dennoch nicht. Durch sie spart er jährlich mehr als 50.000 Euro Personalkosten und steigert den Milchertrag um zehn Prozent. Der Grund: Merlin melkt die Kühe im Schnitt fast doppelt so oft wie ohne Roboter und regt so die Milchleistung an. Außerdem sind die Tiere durch die datengestützte Kontrolle gesünder. Zum Beispiel, weil das Funketikett am Huf die Schritte zählt. Bewegt sich eine Kuh wenig, ist sie ein Fall für den Tierarzt. Bewegt sie sich besonders viel, ist sie fast immer brünstig.
Durchschnittlich alle zwei Tage kalbt eine der Schöpcherhofkühe - meistens nachts. Für Bauer Lüpschen ist die Unzeit kein Problem. Unter den Stallgiebeln blickt eine Videokamera in jeden Winkel und schickt ihm die Bilder auf seinen Laptop. Bis zur Nummernkennung am Ohr kann er sich heranzoomen - auch im Bett. "So weiß ich selbst um Mitternacht, wann's ernst wird." Die Kälbersterblichkeit auf dem Schöpcherhof liegt gerade einmal bei drei Prozent.
Trotzdem: Entfremdet so viel Technik nicht von den Kühen? "Im Gegenteil", sagt Lüpschen. "Technokraten werden mit Melkrobotern scheitern. Nur ein guter Kuhmensch interpretiert die Daten richtig." Außerdem könne er so den Nachwuchs für seinen Beruf begeistern. "Kennen Sie das geflügelte Wort vom Bauernsäugling, dem ein Stein auf die Brust gelegt wird, damit er das Jammern lernt?" Lüpschen lacht, hebt die Brauen und leuchtet vor Optimismus. "Das muss endlich in die Mottenkiste."
Wer Markus Friederichs sieht, kann sich nicht vorstellen, dass er jemals gegen einen Stein anatmen musste. Der Jungbauer ist mehr als zwei Meter groß und Handballer. 150 Hektar Ackerfläche bewirtschaftet er auf dem Christinenhof. Man findet ihn im linksrheinischen Kölner Speckgürtel, wo Autobahnen und gigantische Strommasten die Landschaft zerschneiden.
Ein Besuch bei Markus Friederichs macht endgültig klar, dass der Bauernhof keine heile Welt aus einer technikfernen Zeit darstellt, sondern ein digitalisiertes Hightechunternehmen ist. Früh am Morgen klettert er in die klimatisierte Kabine seines Riesentreckers. Er startet den Bordcomputer, checkt online den Wetterbericht und beantwortet zwei E-Mails. Dann ruft er auf einem Touch-Screen Schlagkarteien auf, in denen seine Äcker mit Bodenproben und Ertragskartierungen abgebildet sind. Erstellt werden sie per GPS, das ebenso als Lenkhilfe funktioniert. "Der Schlepper fährt fast von allein", sagt Friederichs, als er ihn auf einen Getreideacker neben dem Hof steuert.
GPS findet man heute in vielen Betrieben. Nicht aber den N-Sensor, der auf Friederichs Treckerdach thront wie eine blau lackierte Walschwanzflosse. Das 25.000 Euro teure Ding ist der letzte Schrei der Stickstoffdüngung. Dank seiner vier Kameraaugen erkennt der Sensor die Blattdichte und weiß so, wieviel Kali oder Phosphor die Pflanzen brauchen. Den Bedarf gibt er in Sekundenschnelle an den Düngerstreuer weiter, der die Portionen zuteilt. "Das ist Precision Farming", sagt Friederichs. "Jede Pflanze bekommt nur, was sie wirklich braucht." Das spare Energie, CO2 und dem Christinenhof jährlich 3.500 Euro Düngerkosten.
Tag für Tag verschwinden in Deutschland Acker- und Wiesenflächen in der Größe von 160 Fußballfeldern. Mit seinem Technik-Faible bietet Friederichs diesen Konzentrationsprozessen die Stirn. "Aber das allein reicht nicht aus", sagt er. "Man muss auch den Markt jederzeit im Auge haben." Während er über den Acker schnürt, tippt er auf den Monitor, und es erscheint die Internetseite der Waren- und Terminbörse Hannover. Sie hilft ihm, den besten Verkaufszeitpunkt für seine Ernten zu ermitteln. "Durch die Globalisierung ändern sich die Preise fast stündlich", sagt der 32-Jährige. Ist der moderne Bauer also eine Art Zocker? In Friederichs Mimik breitet sich ein Lächeln aus wie Licht, das langsam hochgedimmt wird. "Könnte man so sehen", grinst er schließlich. Dann schaut er nocheinmal auf den Dax. Ein Teil seines Vermögens hat Friederichs in Aktien angelegt.
Wie Christoph Lüpschen ist Markus Friederichs einer, der in die Offensive geht. Einer, der seine Chancen sucht, und der den getriebenen Bauernstand wieder zu jener stolzen Zunft machen könnte, die er über Jahrhunderte verkörperte. Kreativität und unternehmerischer Mut sind dabei entscheidend. Während Lüpschen auf seinem Hof gerade eine Biogasanlage baut, die 1.600 Haushalte mit Strom beliefern wird, gewinnt Friederichs Solarenergie auf seinen Dächern. Von denen hat er reichlich. Denn mit zwei Reithallen, einer Longierhalle und 53 Paddockboxen betreibt er auch eine Pferdepension.
Der neue Unternehmergeist werde allerdings vom Papierkult der Brüsseler Politik torpediert, betonen Lüpschen und Friederichs unisono. Bis zu einem Drittel ihrer Arbeitszeit verbringen sie im Büro. Und da geht ohne IT-Einsatz nichts mehr. Den letzten Flächenantrag für die EU-Subventionen haben beide mit Google Earth erstellt. "Dabei könnte ich schon heute ohne Subventionen leben", sagt Friederichs. "Ein gutes Gefühl." Dann klingelt sein Handy. Ein Kollege bittet um Rat. Es wird heute nicht bei einem bleiben.
Der Autor ist freier Journalist in Köln. Er arbeitet unter anderem für "Die Zeit".