GEMEINDEN
Der Strukturwandel stellt die Kirchen im ländlichen Raum vor Probleme, bietet ihnen aber auch Chancen. Sie müssen sie nur wahrnehmen. Zwei Beispiele
Lernen kann bisweilen ganz schön auf den Geist gehen. Das war schon immer so und ist nicht weiter verwunderlich. Dass es auch auf den Magen schlagen kann, zeigt das Beispiel einer Sechsjährigen vom hessischen Vogelsberg. "Papa, kannst Du mir sagen, warum einem erst schlecht werden muss vom Busfahren, bevor man was lernen kann", hatte die ihren Vater gefragt. Rund eine Dreiviertelstunde waren sie und ihre Mitschüler damals aus dem hessischen Freienseen am Vogelsberg zur Grundschule unterwegs. Morgens 45 Minuten hin, mittags 45 Minuten zurück. Die Grundschule im 800 Seelen Dorf Freienseen, einem Ortsteil von Laubach, war nämlich Mitte der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der damaligen Bildungsreform geschlossen worden.
Seit nunmehr zehn Jahren ist es für die Grundschüler allerdings vorbei mit der Fahrerei - und weitestgehend auch mit der Übelkeit. Denn seit 1999 hat das Dorf seine eigene Schule wieder, eine echte Dorfschule. In vier sogenannten Stammgruppen werden die Schüler von der 1. bis zur 6. Klasse unterrichtet. Träger der Schule ist die evangelische Kirche. Denn beim Landkreis war die Elterninitiative um den umtriebigen Dorfpfarrer Ulf Häbel mehrfach gescheitert. Das Dorf sei zu klein, eine eigene Schule lohne sich dort nicht. Die evangelische Kirche in Hessen und Nassau sieht das anders.
Mit einem saftigen Zuschuss aus dem Dorferneuerungsprogramm des Landes konnte am Dorfrand die Evangelische Grundschule Freienseen neu gebaut werden. Es ist ein freundlicher Bau in hellen Farben und mit viel hellem Holz. Durch breite Fensterfronten und ein Glasdach flutet Licht die Flure und Klassenzimmer. Das Gebäude steht nicht nur den Schülern, sondern allen Gruppen und Vereinen des Dorfes offen. Die Schule ist damit zum "integrativen Bestandteil" des Dorfes geworden, wie Ulf Häbel beschreibt. Sie sei ein Symbol dafür, dass das Dorf lebe. Ein Symbol, das es ohne die Kirche nicht gäbe. Ein Symbol, für das, was Kirche, gleich welcher Konfession, auf dem Land tun kann.
"Kirche - besonders auf dem Land - hat eine kulturtragende Funktion. Kirche muss Integrationslotse sein", sagt Häbel, der mittlerweile pensioniert ist, aber immer noch als Pfarrer aushilft und als Gemeindeberater arbeitet. "Dörfer sind lebenswert. Das müssen wir deutlich machen. Erst recht in Zeiten, in denen alles aus den ländlichen Regionen abgezogen wird, muss die Kirche da bleiben - nicht nur als religiöser Dienstleister", fordert der Mann, der sein Ideal von Kirche auf dem Land lebt.
Häbel hat einen eigenen kleinen Hof mit fünf Hektar Land, eine kleine Ziegenzucht, ein paar Schweine. Auch vor seiner Pensionierung vor zwei Jahren wohnte er mit seiner Familie, seiner Frau und den fünf Kindern, im Bauern- und nicht im Pfarrhaus. Häbel fühlt sich hier sehr wohl zwischen den sanften grünen Hügeln rund um den Vogelsberg.
Die Realität außerhalb des malerischen Seenbachtals sieht vielerorts allerdings anders aus. Denn um Präsenz zu zeigen, wie Dorfpfarrer und Gemeindeberater Ulf Häbel es tut, wie es gerne auch in Positionspapieren der Kirchen steht, braucht es Personal. Das ist in Zeiten kirchlich klammer Kassen und in Zeiten, in denen vor allem auf katholischer Seite immer weniger Männer Priester werden, knapp. Ulf Häbel fordert dennoch: "Es dürfen nicht weiterhin Pfarrer im ländlichen Raum abgezogen werden." Denn die Menschen auf dem Land müssten sich darauf verlassen können: "Die Kirche ist da, wenn wir sie brauchen."
So wie die Katholische Landjugendbewegung (KLJB) in Stammheim, einem Dorf mit knapp 900 Einwohnern im südlichen Landkreis Schweinfurt. Hier bei Kolitzheim, zwischen Hirschfeld, Oberspiesheim, Sulzheim, Krautheim und Wipfeld ist eigentlich der sprichwörtliche Hund begraben - nur Stephan Barthelme drückt es etwas sachlicher aus: "Wenn hier die Kirche nichts machen würde, würde hier nichts laufen", sagt der 24-Jährige. Dass für Kinder und Jugendliche "was läuft", dafür sorgt in Stammheim die KLJB, zu deren Leitungsteam Barthelme gehört. Für die Schüler bis zur sechsten Klasse gibt es zwei Kindergruppen, für die Größeren und die jungen Erwachsenen findet freitagabends im Pfarrheim ein Jugendtreff statt. Rund 100 Kinder und Jugendliche gehören zur KLJB Stammheim. Außerdem organisiert die Landjugend, die mit 20 Diözesanverbänden in den meisten Bistümern in Deutschland vertreten ist, beispielsweise Spiele- oder Kinoabende, Kinderwochenenden oder Zeltlager. Die KLJB, die hier nur als Beispiel kirchlicher Arbeit auf dem Land genannt sein soll, versteht sich dabei nicht nur als katholischer Jugendarbeiter in den Dörfern, sondern will sich auch politisch einmischen, der Jugend eine Stimme geben.
Die Beispiele aus Hessen und Bayern, die zeigen, welche Rolle Kirche, neben ihrer spirituellen Kernaufgabe, auf dem Land spielen kann, können allerdings nicht über die bestehenden Probleme hinweg täuschen. Personal- und Geldmangel, Strukturreform und Gemeindezusammenlegungen machen sich auf dem Land noch deutlicher bemerkbar als in Ballungszentren. Auch wenn das offiziell von Kirchenseite niemand sagen will, fehlt es bisher an tragenden Konzepten zur Entwicklung des ländlichen Raums. Viele Aktivitäten - so es sie gibt - sind regional begrenzt, kaum vernetzt, personenabhängig und häufig ehrenamtlich initiiert und getragen.
Die Beispiele zeigen allerdings eines: Kirche kann dazu beitragen, dass Menschen auf dem Land eine Perspektive haben - wenn die Kirche im Dorf bleibt.