Medien
In dünn besiedelten Gebieten werden Redaktionen geschlossen oder ausgedünnt
"Beim Frühstück ist es leerer auf dem Tisch", sagt Ulrich Canisius aus der westfälischen Kleinstadt Werl. An Canisius kommt in Werl keiner vorbei, wenn es um Märkte oder auch die jährliche Kirmes geht. Canisius ist Fachbereichsleiter I, "Verwaltungssteuerung und Finanzen" in Werl, als solcher auch fürs Archiv und die Stadthalle zuständig - und er ist Zeitungsleser. Seit Anfang Juli hat Canisius deutlich weniger zu lesen: Zum Monatsanfang hatte die zum Essener WAZ-Konzern gehörende Westfalenpost ihre Lokalausgaben in Werl und im benachbarten Soest dicht gemacht und die Redaktionen geschlossen. Die WAZ-Gruppe, mit gleich vier Titeln zwischen Rhein und Weser Platzhirsch unter den Medienhäusern der Region, muss sparen. 32 Millionen Euro im Jahr ist die Vorgabe der Geschäftsführung. Das trifft auch die sich selbst stolz als Heimatzeitung vermarktende Westfalenpost hart, die ganz besonders auf die enge Bindung zur Region setzt.
Im März waren sie in Soest noch auf die Straße gegangen für ihre Lokalteile. Rund 200 Mitarbeiter aus allen Teilen der WAZ-Gruppe und viele Einheimische protestierten im beschaulichen Fachwerkidyll gegen die "WAZ-Walze", die konzernweit Lokalredaktionen plattmache oder zusammenlege. Vom Bürgermeister bis zum Leser des Konkurrenzblattes Soester Anzeiger waren sich alle einig: Konkurrenz belebt das Geschäft. Doch ihr Ruf verhallte wirkungslos. Den Westfalenpost-Lesern wurde angeboten, künftig den Lokalteil aus Arnsberg oder Warstein zu beziehen - doch diese Orte sind schon Sauerland und mehr als 30 Kilometer weit weg. "Lokalberichterstattung für uns findet in der Westfalenpost nicht mehr statt", sagt Canisius. Werl und Soest, bislang mit zwei lokalen Tageszeitungsangeboten gesegnet, müssen nun mit einem auskommen: Der jeweiligen Lokalausgabe des Westfälischen Anzeigers aus der konservativen Ippen-Gruppe. "Einzeitungskreis" nennen das die Experten, mittlerweile sind rund 70 Prozent des Bundesgebietes solche publizistisch schwach versorgten Gebiete.
Die ländliche Region östlich des Ruhrgebiets ist kein Einzelfall: Überall dort, wo der Ballungsraum endet, werden Redaktionen geschlossen oder ausgedünnt. Neue Einzeitungskreise entstehen: Im Ennepe-Ruhr-Kreis machten die Lokalredaktionen der Westfalenpost in Gevelsberg, Schwelm, Ennepetal und Wetter dicht. Im Norden, wo das Münsterland beginnt, traf es die WAZ-Lokalteile für Haltern und Umgebung. "Da ist schon ein Stück Infrastruktur weg gebrochen", sagt Martina Klaus vom Büro des Bürgermeisters in der Stadt am See, auch wenn man sich bislang nicht darüber beklagen könne, dass bestimmte Themen nun gar nicht mehr in der Öffentlichkeit auftauchten. Natürlich sei die lokale Informationsvermittlung weiter gewährleistet, sagt auch Ennepe-Ruhr-Kreis-Sprecher Ingo Niemann: Doch früher hätten eben zwei Blätter mit unterschiedlichen Ansichten "auf eine Geschichte geschaut. Diese Meinungsvielfalt gibt es jetzt nicht mehr". Auf den Pressekonferenzen in den Gemeinden und beim Kreis selbst wird es im Saal immer übersichtlicher. Immerhin: Die WAZ-Gruppe überlegt nach Niemanns Informationen nun, eine Kreisseite, also eine Art übergeordnete Lokalseite für alle Orte im Kreis einzuführen, auf der dann wenigstens das Wichtigste steht.
Für den Dortmunder Journalistik-Professor Günther Rager kommt all das wenig überraschend: "Wir werden uns langfristig auf diese Entwicklung einstellen müssen", sagt der Fachmann für Regionalpresse und Lokalberichterstattung. Allerdings sei es ungerecht, die Verantwortung allein auf die Verlage abzuwälzen. "Wenn die Bürger immer weniger für Zeitungen bezahlen wollen, darf man sich nicht wundern, wenn die Verleger als Unternehmer anders reagieren, als das politischen Wunschvorstellungen entspricht." Doch durch den schleichenden Rückzug brächten sich die Regionalverlage selbst in eine komplizierte Situation, sagt Rager: "Regional- und Lokalzeitungen leben von den Interessen ihrer Leser, da steht der eigene Ort im Mittelpunkt, egal wie klein er ist." Je größer nun wie bei den als Ersatz eingeführten Kreisseiten das abzudeckende Gebiet wird, desto schwieriger werde es, diese Erwartungen auch nur ansatzweise zu erfüllen. "Das ist ein echtes Dilemma", stellt Rager fest.
Die Folge: Noch mehr Leser wenden sich ab, doch der lokale Hörfunk oder das Internet sind kaum ein adäquater Ersatz. Dabei, sagt Rager, sei die lokale Tageszeitung als Marktplatz für politische Meinungen wie Serviceangebote das wichtigste Integrationsmedium für alle Gruppen der Bevölkerung. Konsequent zu Ende gedacht würde die heutige Rückzug-auf-Raten-Strategie der Verlage vielleicht zu einem zeitungslosen Zustand führen: In dünn besiedelten Gebieten, wo die Zustellung der Zeitung ein Vielfaches mehr kostet als in der Großstadt, könnten die Verlage vielleicht sogar irgendwann gar keine Abonnements mehr annehmen, fürchtet Rager. Aus manchem Einzeitungskreise könnte dann ein "Keinzeitungskreis" werden.
Der Autor ist Medienredakteur bei der "tageszeitung" in Berlin.