Ärztemangel
In Brandenburg kommt ein Vertragsarzt auf 840 Einwohner. Deshalb schult das Bundesland nicht nur Ärzte aus Osteuropa, sondern auch die Patienten
Auf dem Land wird der Weg zum Arzt immer weiter. Im dünn besiedelten Brandenburg nimmt der Ärztemangel mancherorts dramatische Formen an. Deshalb werden dort besonders viele neue Ideen getestet, um Abhilfe zu schaffen: Was die "Gesellschaft für Leben und Gesundheit" (GLG) bei der Personalsuche für ihre Kliniken im Nordosten des Bundeslandes anbietet, liest sich wie aus einem "Wünsch-Dir-was"-Katalog: Es gibt eine möblierte Wohnung in der Probezeit, Reinigung zubuchbar. Teilzeit ist möglich, gleitende Arbeitszeit auch. Für neue Ärzte übernimmt die Gesellschaft außerdem die Suche nach einem Job für den mitziehenden Partner und jeden zweiten Monat die Gebühr für die Kreis-Musikschule, falls für die Kinder Unterricht gewünscht wird. Sollten Klinikmitarbeiter ein Auto kaufen, stehen die Chancen gut, dass sie 15 Prozent Preisnachlass bekommen. Denn die Krankenhausgesellschaft hat mit etlichen Unternehmen in der Region Rabattverträge für ihre Mitarbeiter geschlossen.
"Das ist alles nicht unattraktiv", fasst GLG-Chef Harald Kothe-Zimmermann das Angebot in aller Bescheidenheit zusammen. Man könnte auch sagen: Ärzten wird an den GLG-Krankenhäusern in Prenzlau, Eberswalde, Angermünde und Barnim der rote Teppich ausgerollt. Aus gutem Grund: Ärzte sind heißbegehrt und ländliche Regionen wie der Nordosten Brandenburgs stehen auf ihrer Wunschliste nicht an erster Stelle.
Wer heute ein Medizinstudium abschließt, hat die freie Wahl, wo er seinen Beruf ausüben möchte - im Krankenhaus oder in einer Praxis, oder doch lieber in der Privatwirtschaft. "Wir haben im Schnitt 12.000 Studenten, die im Wintersemester ein Medizinstudium aufnehmen", sagt Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). "Nach sechs Jahren bleiben von diesen Studierenden aber nur 6.800 übrig, die tatsächlich in der stationären oder ambulanten Versorgung arbeiten, und die können sich aussuchen, wo sie hingehen." Aufs Land gehen nur wenige. In einer Studie über die Alterstruktur- und Arztzahlentwicklung in Deutschland stellte die KBV im Oktober 2007 fest, dass ganze Regionen von einer gründlichen Hausarztversorgung abgehängt sind. In Norddeutschland hatten demnach acht Bezirke einen Versorgungsgrad von weniger als 90 Prozent bei Hausärzten. In den neuen Bundesländern waren es 13 Bezirke, 21 weitere lagen unter 100 Prozent.
In Brandenburg ist die Situation besonders krass. Rund 170 Hausärzte fehlen und etwa zwei Dutzend niedergelassene Fachärzte. Das Bundesland hat die geringste Vertragsarztdichte: Statistisch kommt hier ein Vertragsarzt auf 840 Einwohner. In Bremen sind es knapp 400 Einwohner - bei viel kürzeren Wegen als im Flächenland Brandenburg. Rein rechnerisch sei der Versorgungsgrad derzeit noch in allen Facharztgruppen zufriedenstellend, heißt es im Gesundheitsministerium. Doch regional gebe es erhebliche Unterschiede: Im Berliner Umland sei die Versorgung gut, an den dünn besiedelten Landesgrenzen seien dagegen frei werdende Stellen nur schwer zu besetzen.
"Es gibt einfach Stellen, an die kann man keinen jungen Arzt ruhigen Gewissens vermitteln", sagt Ralf Herre, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB). Wenn in einer Gemeinde die Einwohnerzahl auf ein Drittel schrumpfe und dort eine Arztpraxis aus Altersgründen frei werde, sei die nicht mehr zu besetzen. "Ein Hausarzt ist schließlich immer auch ein kleines Wirtschaftsunternehmen." In solchen Regionen müssten andere Lösungen gefunden werden.
In diesem Jahr wird das Land erstmals auf Absolventenmessen in Österreich für seine Facharztausbildung werben - denn im Nachbarland gibt es zu viele Ärzte. Die Kassenärztliche Vereinigung wiederum hat ihre Zuschüsse für Praxisgründungen und Praxisübernahmen aufgestockt. Jeder macht mit - und so manche Idee hebt die Dramatik der Lage erst in aller Schärfe hervor.
So will die Gesundheitsregion Fontane in Nordbrandenburg den Einsatz von Telemedizin zur Betreuung herzkranker Patienten testen. Dabei soll der Patient zu Hause seine Gesundheitswerte selbst messen. Die Daten sollen per Funk an das Zentrum für Telemedizin an der Berliner Charité geschickt und automatisch ausgewertet werden, um bei Bedarf den Hausarzt oder den ambulanten Kardiologen in der Region zu alarmieren. Ein Grund für das Projekt: Notärzte kommen in Brandenburg schon wegen der langen Anfahrtswege immer wieder zu spät. Die Sterblichkeitsrate für Herz-Kreislauferkrankungen liege teilweise um 40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt, heißt es in der Projektbeschreibung.
Ein anderes Beispiel: Die AOK Brandenburg hat mit der Augenärztegenossenschaft (aägb) des Landes einen Selektivvertrag geschlossen. Seit dem 1. Mai stehen AOK-Versicherte nun "bei Service und Terminlisten an vorderster Stelle", wie aägb-Chef Dietmar Reinfeld erklärt. Die Augenärzte garantieren eine schnellere ambulante Behandlung und Operationstermine binnen vier Wochen. "Wartezeiten von drei Monaten und länger sollen für AOK-Versicherte im Land Brandenburg endlich der Vergangenheit angehören", sagt AOK-Chef Frank Michalak.
Als voller Erfolg hat sich das Integrationsprojekt für zugewanderte Ärzte erwiesen: Zehn Monate lang schulte das Land Brandenburg gemeinsam mit der Otto-Benecke-Stiftung 21 Ärzte aus Osteuropa, um diese fit zu machen für den hiesigen Gesundheitsmarkt und die Zulassungsprüfung der Landesärztekammer. Ein Sprachkurs gehörte dazu, ein viermonatiges Praktikum und die gezielte Vorbereitung auf die Prüfung Anfang des Jahres. Ergebnis: 17 Ärzte bestanden auf Anhieb, sechs haben inzwischen einen Arbeitsvertrag.
Zinaida Fomenko ist eine von ihnen. Seit April arbeitet die 52-Jährige in der Gynäkologie im Krankenhaus Prenzlau. In Usbekistan war sie bereits 19 Jahre lang Ärztin. Doch nach ihrer Aussiedlung nach Deutschland vor neun Jahren bekam sie gerade mal einen Job als Putzfrau. "Für die Sprache war das ganz gut und um ein bisschen Geld zu verdienen, aber beruflich war es eine lange Pause", sagt sie. Für die Brandenburger Schulung zog sie extra aus Schleswig-Holstein nach Potsdam um. Inzwischen hat Zinaida Fomenko in Prenzlau, 100 Kilometer nördlich von Berlin, eine neue Heimat gesucht. Der Unteruckersee und die Uferpromenade haben es ihr angetan, die vielen Kirchen und die historischen Gebäude. Und natürlich die Arbeit. Ihr gefalle der freundliche Umgang unter den Kollegen, die klare Aufgabenverteilung und die Tatsache, dass sie nach acht Jahren Berufspause neulich ihren ersten Kaiserschnitt machen durfte.
Angesichts von 170 fehlenden Hausärzten und geschätzten 160 Ärzten, die den Brandenburger Krankenhäusern fehlen, mögen 17 Ärzte aus Osteuropa wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheinen. Doch die Fachleute sehen das anders: "Aus Brandenburger Sicht ist alles, was uns hilft, positiv", sagt KVBB-Sprecher Ralf Herre. Auch Harald Kothe-Zimmermann, zu dessen GLG-Gesellschaft auch das Krankenhaus Prenzlau gehört, findet das Integrationsprojekt gut. "Wenn wir den ländlichen Raum nicht aufgeben wollen, müssen wir kreative Ideen entwickeln und behördliche Hindernisse abbauen", sagt er. Er halte es auch nicht für problematisch, wenn deutsche Ärzte ins Ausland gingen. "Die werden nicht dümmer dabei. Wir müssen ihnen nur attraktive Arbeitsbedingungen bieten, damit sie wieder zurückkommen."
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.