Geschichte
Landluft ist miefig, Stadtluft macht frei. Was sich bekannt anhört, ist historisch betrachtet oft ein Klischee. Die Geschichte des mitteleuropäischen Dorfes jedenfalls kennt Freiheiten ganz eigener Art
Eschberg war ein Jammertal. Jahrhunderte lang soll das kleine Alpendorf einen derart "verhängnisvoll störrischen Charakter" gehabt haben, dass es irgendwann daran zugrunde gegangen ist. Eschberg, so lautete der Name eines Weilers irgendwo in den österreichischen Bergen. Der Schriftsteller Robert Schneider hat in diesem die Handlung seines Bestsellerromans "Schlafes Bruder" angelegt. Eschberg, das war ein Ort voll Inzest und voll Dunkelheit. Ein Ort, an dem "Gott Menschen nie gewollt" hatte. Sicherlich: Dieses Eschberg ist eine literarische Übertreibung. Und doch: In der mitteleuropäischen Kulturgeschichte gibt es solch Eschbergs in großer Zahl. In Landdichtungen und Dorfgeschichten wimmelt es von Provinznestern voll tumber Tölpel und unbeflissener Agrarier. Zumeist städtische Autoren rümpfen in ihren Werken die Nase über ein angeblich ungehobeltes Landleben.
Dabei steckt das Dorf noch in uns allen. Im jüngst erschienenen Provinzlexikon des im niedersächsischen Peine beheimateten Schriftstellers Henning Ahrens heißt es hierzu: "Niemand ist frei von Provinz. Ob als Herkunft oder Geisteshaltung." Und zumindest was die Herkunft angeht, da scheint Ahrens Recht zu haben. Noch um das Jahr 1800 waren 80 Prozent aller Erwerbstätigen Mitteleuropas in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. Wer seine Ahnenreihe also nur weit genug zurückverfolgt, der landet früher oder später auf dem Dorfe - bei einer Gemeinschaft, die bereits für den Soziologen Georg Simmel zu den grundlegenden Vergesellschaftungsformen zählte. Es ist ein Verbund, der sich durch eine Übersichtlichkeit sozialer Beziehungen auszeichnet. Nirgends scheint man dem Anderen hier ausweichen zu können. Zuweilen gar - wenn es sich um die Sippschaft handelt - nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Überall lauern die dauerhaften Beziehungen von Verwandtschaft und von Nachbarschaft. Zwischen Dorfkirchen und Friedhofsmauern manifestiert sich unentwegt gemeinsam erlebte Geschichte. Und das bereits seit mehr als 1.500 Jahren.
Solange nämlich ist es her, dass es auf den Gebieten zwischen Nordsee und Alpen zu einer Landnahme gigantischen Ausmaßes kam. Mochte es in dieser Region zwar auch zu Zeiten der römischen Kaiser bereits Siedlungen und Verkehrswege gegeben haben, erst das Ende der Völkerwanderung hat jene zumeist germanische Niederlassungen hervorgebracht, die als Keimzelle der mitteleuropäischen Dörfer gelten können. Damals ließen sich in den einst römischen Zonen Franken und Alemannen nieder, während nördlich der Mittel- gebirge Sachsen und Friesen zu siedeln begannen.
Für den Wiener Sozialhistoriker Michael Mitterauer sind diese Dorfgründungen Ergebnisse einer einmaligen Agrarrevolution gewesen. Das Aufkommen der Dreifelderwirtschaft, die Fortentwicklung von Pflug und Pferdekraft sowie die Einführung neuer Getreidearten hätten nicht nur den Landbau revolutioniert, sie hätten auch im sozialen Zusammenleben Spuren hinterlassen. Plötzlich war die ländliche Arbeit nicht mehr allein im Familienverband zu bewältigen. Allerorten wurde jetzt kollektiviert und spezifiziert. Früh teilte man sich Wiesen wie Wälder und baute gemeinschaftliche Anschlussbetriebe auf - darunter Wassermühlen, Brunnenanlagen oder Backöfen. So erhielten die Dörfer bald jenes Aussehen, das sie zuweilen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte.
Als Wirtschaftsraum waren diese Landkommunen bestens organisiert. Die Grundmaxime dörflicher Herrschaft war simpel: Nicht jeder Dörfler war gleich an Macht und Bedeutung. In den Grenzen des Frankenreichs war man sich in diesem Punkte weitgehend einig. Hier setzte sich früh die sogenannte Villikationsverfassung durch - eine Ordnung, die sich nach Grundbesitz und Herkunft staffelte. Sie teilte die Menschen in drei Gruppen ein: In die Grundherren mit einer Herrschaft über Leib und Boden, in die von den Grundherren abhängigen Vollbauern und nicht zuletzt in eine sich schnell herausbildende Unterschicht.
Geteilt war aber nicht nur die Gesellschaft, geteilt war auch das Land. Gab es im Zentrum der meisten Dörfer einen großen Fronhof nebst Äckern und Wiesen, so existierten daneben zahlreiche kleine Bauerngüter. Diese wurden den Vollbauern gegen Abgaben und Dienste übertragen. Das Ergebnis war soziale Ungleichheit: Und dennoch war die Villikation ein Erfolgsmodell. Mochten sich die Dörfer im Laufe der Jahrhunderte auch wandeln: die Teilung in Freie und Unfreie sowie die Ausbildung komplexer Organisationsprozesse wirkte oft noch bis in die Zeit der Bauernbefreiung nach. Der Sozialhistoriker Michael Mitterauer geht in seiner Einschätzung sogar noch weiter. Für ihn ist die Villikation nicht nur notwendige Voraussetzung für die Entwicklung des Dorfes, sie ist auch Ursache für einen einmaligen "europäischen Sonderweg" gewesen. Arbeitsteilung, Frühkapitalismus oder die Überwindung der engen Sippenstrukturen, sie seien ohne die frühen Dorfverfassungen nicht denkbar gewesen.
Dabei sollte sich die Herrschaft in den frühmodernen Dörfern schon bald grundlegend wandeln. Mit dem Aufkommen der ersten großen Städte verloren die zumeist adeligen oder kirchlichen Grundherren ihr Interesse an der ländlichen Scholle. In zahlreichen Dörfern kam die Fronwirtschaft nun zum Erliegen. Die Folge war eine neue Form der Selbstorganisation. Leitungs- und Verwaltungsbefugnisse gehen nun vom Grundherren auf die dörflichen Gemeinden über. Mit Gemeindeversammlungen und Ratssitzungen wurden Ordnungsmächte etabliert, die erstmals quer verlaufen zu den hierarchischen Strukturen der Feudalgesellschaft. Das, was man später einmal die "kommunale Selbstverwaltung" nennen wird, hat in diesen Gemeindebildungen seine Wurzeln. Es war ein gewaltiger Wandel. Selbst in den Städten begann man nun, die Dörfler zu beneiden. Mochten die neuen Gemeindeordnungen im Laufe der Jahrhunderte auch immer wieder niedergerungen und neu erkämpft werden, sie waren der Beginn einer Neubewertung der Provinz. Im Schatten der Dorfkirchen lag mit einem Mal so etwas wie eine bessere Welt. Zuweilen singen selbst heutige Historiker noch das Hohelied vom glücklichen Dorf in der Moderne. Alexander Gall etwa schwärmt in seinen historischen Untersuchungen noch immer von einer vorgeblich "klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenz".
Die Wahrheit mag noch über Jahrhunderte anders ausgesehen haben. Regionale Unterschiede und soziale Ungleichheiten bestimmten die meisten Dörfer bis weit in die Epoche der preußischen Reformen hinein. Erst Heinrich Freiherr vom Stein brachte mit seinen Verwaltungsreformen der Provinz und ihren Menschen letzte Freiheit und Autonomie. Und doch: Die Behauptung, dass Landluft von Beginn an miefig gewesen sei, während Stadtluft per se frei gemacht hätte, ist eigentlich ein altbackenes Klischee. Wer je auf einem Dorf gelebt hat, der weiß ohnehin: Alles, was man über die Dörfer sagt, stimmt - aber garantiert stimmt auch das Gegenteil.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.