Landleben
Dörfer schrumpfen - und sterben dennoch nicht. Persönlicher Blick auf eine »Schwundzone«
Steinbach - erstes deutsches Dorf macht dicht!" schrieb eine große Boulevardzeitung vor einiger Zeit. Aus dem sächsischen Weiler nahe der polnischen Grenze seien fast alle Bewohner weggezogen. Die letzten sollten umgesiedelt werden. Ein Dorf mit zu wenig Menschen könne nicht funktionieren. Also weg mit Steinbach? Weg mit den Dörfern?
Und: Weg mit meinem Dorf? Es heißt nicht Steinbach, aber es könnte so heißen. Nicht nur, weil es in Deutschland 61 Orte dieses Namens gibt. Auch Steinbachs Probleme gibt es überall. "Entlegene, ländliche Regionen verlieren in Ost und West einen erheblichen Teil ihrer Einwohner", stellt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seinen Studien fest. Aus der Prignitz wie aus der Südwestpfalz, aus dem Harz wie aus Nordhessen wandern die Jungen ab. Zurück bleibe eine "Restbevölkerung", gezeichnet von Arbeitslosigkeit und Überalterung. "Dörfer und kleine Städte bluten regelrecht aus", so das Fazit der Demografen.
Mein Landleben beginnt freitagabends mit einem Bild von Berlin im Rückspiegel: Der Fernsehturm ragt noch aus leuchtend grünen Feldern, während das letzte Licht der Vorstädte längst hinter mir liegt. Zwischen meinem Leben auf dem Dorf in Brandenburg und der Arbeitswoche in der Stadt liegen rund 100 Kilometer. Eineinhalb Stunden auf immer schmaleren Straßen, die letzte ist nur noch ein kopfsteingepflasterter Weg. Die Welt kehrt sich um, alles wird klein. Durchs Autofenster dringen Hundegebell und der satte Geruch von reifem Getreide. Was ist im Garten gewachsen? Wird die Katze schon warten? Meine Nachbarn - sie haben Namen, im Gegensatz zu jenen in Berlin - wie geht es ihnen?
Als wir vor acht Jahren das alte, graue Haus kauften, wussten wir wenig vom Dorfleben. Es war eine vage Idee: Einen Garten wollten wir haben, einen Ort, in den wir gehörten. Und ein Ziel, wenn uns die Stadt zu viel wurde. Wir fanden die Uckermark: Weites, hügeliges Endmoränenland, mit sanften Rundungen und geheimnisvollen Winkeln hinter Gehölz und Gebüsch. Eine Landschaft mit feuchten Augen aus hunderten Seen. Eine menschenleere Ecke kurz vor Polen, die definitiv nie Speckgürtel wird.
Als wir zum ersten Mal in der Wildnis standen, die unser Garten werden sollte, räusperte sich jenseits des Zauns ein älterer Herr. Er trug eine speckige Schürze um den Bauch und in den Händen eine glänzende Sichel. Unser Nachbar. Ob er unseren Löwenzahn haben dürfte? Die Kaninchen seien schon alle "dod", er werde langsam alt, aber Hühner habe er noch. Ob wir gern "Eichen" wollten? Gemeint waren Eier.
Das mit dem Löwenzahn war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Der Nachbar wollte nicht, dass das Unkraut zu ihm hinüberwucherte. Er hatte auch gleich einen Vorschlag: Wir sollten einen Bauern bitten, mit dem Traktor die Wiese umzuackern. Und dann Kartoffeln anbauen. Kartoffeln würden die Erde verbessern. Ich musste lachen. Das klang so nach Revolution. Die Erde verbessern! Warum nicht gleich die ganze Welt?
Aufs Land, um die Welt zu verbessern - eine schöne Idee. Seit Jahrhunderten bauen die Menschen sich Landsitze ins Grüne, gestalten mit Äckern, Gärten und Parks die Natur. An den kargen Böden der Uckermark haben sich Generationen von Junkern und Tagelöhnern versucht, haben Schlösschen hinterlassen, einsame Landgüter und sogenannte Kasernen für die Saisonarbeiter aus Polen. Letztere sind einfache Häuschen - so wie unseres.
Unser Dorf: Eine Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert. Eine alte Schule, zwei Gutshäuser, ein paar Wohnhäuser, knapp 250 Einwohner. In der Mitte, hinter dem Schafstall, steht das Schloss eines Berliner Fabrikanten, der Anfang des 20. Jahrhunderts hier lebte und feierte. Heute gehört es einem Berliner Anwalt. Er lädt an Wochenenden Berliner Gäste zu "Events in unberührter Natur".
Gelegentlich klingt ein fernes Läuten zu uns. Es ist die Feierabendglocke, die um 18 Uhr noch mancherorts geht. Einst rief sie die Menschen vom Acker nach Hause. Davon hat uns der alte Nachbar erzählt - der früher übrigens selbst zu den Weltverbesserern im Dorf gehörte. Für ihn war die DDR, die die Bauern enteignete, ein florierender Agrarstaat, in dem einer wie er studieren und was werden konnte. LPG-Chef zum Beispiel. Die Gebäude der Tierfutterfabrikation, die er leitete, sind heute Ruinen, seine Angestellten arbeitslos - oder längst weg.
Aber es sind nicht alle gegangen. Im Dorf gibt es mehrere Sanitärfachleute, Gärtner, Kraftfahrer und Angestellte im öffentlichen Dienst. Sogar einen Pfarrer gibt es neuerdings wieder. Zwei junge Mütter haben sich selbstständig gemacht. Nicht mit dem üblichen Altenpflegedienst, der hier als Branche mit Zukunft gilt. Die eine hat einen Kosmetiksalon in ihrem Haus eröffnet. Die andere Frau schneidet Haare. Weil sie keine Anstellung findet, tut sie das bei sich zu Hause - im Sommer im Garten, im Winter im Wohnzimmer.
Nur eines gibt es nicht: einen "echten Bauern". Sicher, die Leute haben Hühner, einige mästen Gänse und Enten, um Rente oder Hartz IV aufzubessern. Die Ställe der Mutterkühe am Dorfrand aber gehören einem Großbetrieb weiter weg. Der romantischen Idee des Bauern kommt René am nächsten, ein Freigeist, zugezogen aus Berlin. Mit seiner Freundin bewirtschaftet er einen Aussteiger-Hof. Wenn wir Besuch haben, der "Landleben" sehen will, gehen wir zu René.
Manchmal bestaunen wir mit unseren Gästen auch das Feuerwehrauto des Dorfes. Es ist ein DDR-Oldtimer der Marke Robur, den die Freiwillige Feuerwehr freitagabends aus der Garage holt, poliert und einmal aufheulen lässt. Praktisch alle jungen Männer sind bei der Feuerwehr. Andere Angebote gibt es nicht. Keinen Laden, keine Kneipe, keinen Fußballverein und keinen Jugendklub. Nicht einmal Graffiti an der Bushaltestelle. Warum auch. Der Bus verkehrt weder abends noch am Wochenende, und selbst werktags steigt kaum jemand ein. Wer kann, lebt unter der Woche in der Stadt - sogar die Schüler, die lieber zu Verwandten ziehen, als täglich hin- und herzupendeln. Laut und fröhlich wird es im Dorf nur an Feiertagen und am Wochenende.
Sonntagabends, wenn das letzte Lachen verklungen, die letzte Autotür zugeschlagen ist, übertönen nur noch die Frösche am Seeufer die Stille. Als letzter rumort noch der Lkw-Fahrer, der seinen Diesel anwirft zur Nachtschicht. Wenn er morgens wiederkehrt, wird er zum Kleinbauern. Er ist zudem der Chef der Feuerwehr, hat eine Menge uralter Traktoren und immer gute Laune. Wir nennen ihn unter uns den "Schlaflosen". Respektvoll. Er kann keine Zeit haben zu schlafen. Mit dem, was Städter "Entschleunigung" nennen, hat sein Landleben definitiv nichts zu tun.
Bevor wir selbst abfahren, laufen wir noch einmal durchs Dorf. Ist es noch schön? Mehr denn je. Was gibt es uns? Manchmal nur Kohlrabi aus dem Garten. Manchmal Kraft für die Woche. Immer: Dankbarkeit. Für die andere Welt, deren Teil wir inzwischen sind. Für neue Freundschaften wie jene zu unserem alten Nachbarn, der damals die Kartoffeln empfahl. Manchmal vermissen wir ihn. Dann gehen wir ihn besuchen. Auf dem Friedhof. Er ist vor zwei Jahren gestorben.
Wenn Dörfer aussterben: Die Demografen des Berlin-Instituts haben dafür Begriffe gefunden wie "Schwundzone" und "Sterbefallüberschuss". Wörter wie Todesurteile, die geradezu danach schreien, sie Lügen zu strafen. Steinbach, das totgesagte Dorf in Sachsen, ist übrigens noch da. Dieser Tage bereitet es seinen Höhepunkt vor, jenen Ritus, bei dem die Dörfer sich selbst beweisen, dass sie da sind: das Dorffest. Es wird auch bei uns bald gefeiert. Steinbach ist eben überall. Und Steinbach lebt.
Die Autorin ist Reporterin für "Die Welt" und "Berliner Morgenpost" und lebt halb auf dem Land und halb in der Stadt.