Um den Ausblick aus dem Fenster seines Abgeordnetenbüros an der Berliner Wilhelmstraße ist er momentan nicht zu beneiden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind die Bauarbeiten an einem großen Eckhaus in vollem Gange. Wenn Hüseyin-Kenan Aydin aus dem Fenster blickt, erinnert er sich lieber an etwas Schöneres. "Vor drei Jahren war der Ausblick toll", erzählt der Abgeordnete der Linksfraktion, der seit 2005 Mitglied des Bundestages ist. "Während der Fußballweltmeisterschaft sind alle Nationalitäten Fahnen schwenkend durch diese Straße gelaufen. Alles war bunt, nicht so grau."
Aydins Parteifarbe ist seit 1984 rot, auch wenn inzwischen die Schattierung eine andere ist. Mitglied der SPD zu werden, war für ihn Mitte der 1980er Jahre ein logischer Schluss. "Ich habe bei Thyssen-Stahl in Duisburg gearbeitet und die strukturelle Benachteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen hautnah miterlebt", erzählt Aydin, der 1962 in der Türkei geboren wurde und mit 13 Jahren nach Deutschland kam, von den Anfängen seines parteipolitischen Engagements.
Dort erlebte er, dass Menschen mit Migrationshintergrund trotz Ausbildung und Qualifikation die "minderwertigen Arbeiten" verrichten mussten. "Auch wenn die Migranten für die qualifizierten Arbeiten besser geeignet gewesen wären - man dachte gar nicht an sie." Deswegen engagierte er sich in der Gewerkschaft und arbeitete im Betriebsrat mit. Ihm war klar, so sagt er, dass diese Benachteiligungen nur behoben werden können, wenn es eine rechtliche Grundlage gibt, gegen sie vorzugehen. "Und weil Gesetze im Parlament gemacht werden, war es für mich wichtig, Mitglied in der SPD zu werden." Das war vor 25 Jahren.
2005 trat er aus der SPD aus. "Ich habe mich einfach nicht mehr wohl gefühlt." Das Schröder-Blair-Papier läutete den Anfang vom Ende seiner SPD-Mitgliedschaft ein. "Die beiden wollten die europäische Sozialdemokratie neu aufstellen und haben sich um die sogenannte Mitte bemüht", sagt Aydin. "Welche Mitte sie meinten, war mir nicht klar." Dass die Arbeit günstiger und Unternehmen international wettbewerbsfähiger werden sollten, machte für Aydin nur eines deutlich: "Die Sozialdemokratie gibt ihre alten Werte auf." Die Agenda 2010 war für ihn die Bestätigung.
Er beteiligte sich an der Gründung der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit". Auch wenn er sich zunächst nicht für die Zusammenarbeit der WASG mit der PDS begeistern konnte, bereut er es heute nicht mehr, dass sie gemeinsam die Partei Die Linke gegründet haben. "Wir stehen für Solidarität und Gerechtigkeit; die Werte, die die SPD in den 1980ern und auch in den 1990ern noch vertreten hat."
Solidarität und Gerechtigkeit sind für Aydin keine Themen, die er auf die deutsche Politik beschränkt. Als Vorsitzender der Parlamentariergruppe Maghrebstaaten und als Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegt ihm besonders Afrika am Herzen. "Ich bin der Auffassung, dass sich Solidarität und Gerechtigkeit auch in den internationalen Beziehungen widerspiegeln müssen, damit eine friedliche Welt organisiert werden kann." Als Maghreb-Experte ist ihm vor allem Frontex ein Dorn im Auge. "Ich halte diese Art der Flüchtlingspolitik für unerträglich. Frontex gehört abgeschafft", sagt Aydin. "Kurzfristig müssen wir die Flüchtlinge in der EU aufnehmen. Langfristig müssen wir durch eine andere Wirtschafts-, Sozial- und Handelspolitik eine Grundlage schaffen, damit die Leute nicht mehr die Flucht ergreifen müssen."
Auch wenn Afrika mit Problemen zu kämpfen hat, sieht Aydin in dem Kontinent mehr als Krieg, Konflikte und Katastrophen. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängt ein Teppich, den er in Benin gekauft hat: eine Karte des afrikanischen Kontinents. Jedes Land in einer anderen Farbe. Darauf genäht sind Giraffen, Elefanten, Löwen "Die Karte symbolisiert für mich den Reichtum Afrikas, die Potenziale", sagt er und ergänzt: "Auch wenn die Realität leider noch anders aussieht."