KULTURDIALOG
Am Mittelmeer entscheidet sich auch die Zukunft Europas. Ein Plädoyer
Wir alle leben von Klischees. Von Vorurteilen, von Gemeinplätzen. Sagt einer "Mittelmeer", stellen wir uns gleich endlose Reihen von Sonnenschirmen vor, in die Tiefe eines Sandstrandes gestaffelt, der von Kindergeschrei und dem Plärren von Lautsprechern hallt. Das Wasser leicht salzig, Olivenbäume am Hang, die Sonne, der Sand.
Wir wissen es ja eigentlich besser. Wissen nicht nur davon, dass es Stürme gibt, mit denen schon Odysseus zu kämpfen hatte, wissen auch von Verschmutzung und dem Verschwinden der Fauna. Wir reden gern vom Mittelmeer als der "Wiege der Kultur" - als ob es nicht viele solcher Wiegen gegeben hätte, und die meisten davon woanders, in Ostafrika, im alten Mesopotamien und, vor 35.000 Jahren, auf der Schwäbischen Alb. Und als ob wir nicht von einem nordamerikanischen Prärieindianer unter Umständen mehr lernen könnten als von einem Vorsokratiker.
Wir erschrecken, wenn wir die Bilder, die Filme sehen von den Elenden, die nun über dieses Meer kommen, immer zahlreicher. Bilder, die uns mit einer dunkel empfundenen Schuld erfüllen, einer Schuldigkeit, die wir denen gegenüber haben, die wir zurück gelassen haben bei unserem Fortschritt und unserer Entwicklung, und die nun über diese Meer kommen wie das schlechte Gewissen, das einen überall einholt. Wir werden nicht fertig damit, und wir werden damit noch lange nicht fertig sein.
Das alte Rom hatte die Fähigkeit entwickelt, die von den Rändern des Riesenreichs nach Italien anbrandenden Fremden zu integrieren - indem es ihnen Bürgerrrechte gab, Aufgaben, Ämter, Arbeit, Würden. Rom hat seine "Estracomunitari", die Asylanten und Einwanderer - da es sie nicht nach Tripolis abschieben konnte wie Berlusconi es tut - "verdaut". Und es wird uns, à la longue, auch nichts anderes übrig bleiben.
Freilich gibt es Verdauungsbeschwerden. In Mailand schlägt Lega-Chef Matteo Salvini, 36 Jahre jung, allen Ernstes vor, in der U-Bahn reservierte Plätze für Lombarden zu schaffen. Die sofort einsetztende Empörung wird gedämpft durch das eigene Land, in dem Mitglieder von der Schweizerischen Volkspartei ein generelles Minarett-Verbot im Lande fordern und eine entsprechende Vorlage auch zur Volksabstimmung bringen. Manchmal denkt man: Wir sind den Zeiten, in denen wir leben, nicht gewachsen. Das Bild von der Barke, in der die Überlebenden auf ihren Toten sitzen, geht nicht aus dem Sinn. Was bleibt, ist eine Aufgabe. Am Mittelmeer, an unserem Mare Nostrum entscheidet sich konkret, wie wir mit unserem Nachbarn auskommen werden, dem Islam.
Unser Meer ist nicht nur eine Oberfläche, auf der wir Handel treiben: Es ist die Ebene, auf der die Gedanken und ihr Austausch notwendigerweise stattfinden müssen. Es ist hervorragend, wenn Barack Obama in Kairo zu den Gelehrten der Scharia spricht, aber es ist von größerer Tragweite für Europa, den nördlichen Anrainer des Mittelmeers, wenn Sarkozy nach Algerien und Tunesien fährt und, unterstützt von den europäischen Partnern den alten Gedanken an die Mittelmeerunion neu vorantreibt. "Das Mittelmeer ist unser zweites Terrain der Solidarität nach Europa", sagte er da, "und es gibt viele gemeinsame Interesssen". Mögen französisch-nationale Interessen mit im Spiel sein - es ist nun, nach der Konsolidierung des Vereinigten Europa, unsere gemeinsame Aufgabe, den Dialog, die gegenseitige Erfahrung und Verständigung mit den islamischen Staaten am Mittelmeer und in Nahost neu aufzunehmen. Das Mittelmeer ist insofern Mare Nostrum in einem genuin politischen Sinn.
Das Gespräch ist die Kultur der Politik. Diese Kultur könnte aufblühen, wenn wenn ein paar von uns endlich Arabisch lernen. Wenn es in unseren Großstädten ein Kino gäbe, das uns kursorisch die Filme aus den Mittelmeerländern zeigt. Dialog dadurch, dass wir auf unseren Reisen in den Orient durch den Veranstalter gezwungen würden, nicht nur mit dem Land, nein, auch mit den Leuten Begegnung aufzunehmen. Mittelmeer, das heißt heute, der Kultur der anderen aktiv zu begegnen: 517 Jahre nach dem Ende der Reconquista eine Reise ins arabisch-berberische Spanien unternehmen, in Erinnerung an 800 Jahre islamischer Präsenz auf dem Kontinent - die ja nicht nur eine Eroberung und Besetzung, sondern die Geschichte eines hochdifferenzierten kulturellen Crossovers ist.
Der Geschichtsunterricht in den Schulen müsste uns - über das Wissen um unsere "griechisch-römische Vergangenheit" hinaus - von Alexandria erzählen, von Aleppo, müsste uns ein farbiges Bild vermitteln von der Völkervielfalt in Jerusalem um Christi Geburt, von den Bewohnern der Sahara, vom Leben des Propheten Mohammed und, warum nicht, von Lawrence von Arabien. Die Abiturientenreise müsste nach Syrien führen. Es müsste geläufig sein, was der Bau des Suezkanals wirklich war, und warum 1956 am Suezkanal Krieg geführt wurde, und warum der Schurkenstreich der ehemaligen Kolonialstaaten Frankreich und Großbritannien misslang. Den Krieg Frankreichs in Algerien nicht zu vergessen, das Ende der europäischen Kolonialpolitik und den Zypern-Konflikt. All dies schwimmt und strandet als Treibgut, wie Plastikflaschen und anderer nichtverrottender Müll, an den Ufern unseres Binnenmeeres. Auf einem kleinen Globus betrachtet, fiele doch ins Auge, das dies kein Ozean ist, endlos und ausgebreitet, sondern ein Gewässer, das nahe Ufer befeuchtet.
Wir gehören zusammen, heißt das. Hüben und drüben, wie die beiden Seiten einer Medaille. Ohne die Komplikation durch den israelisch-palästinensischen Konflikt inmitten der arabisch-islamischen Welt wäre die Lage gewiss einfacher. Aber auch so sollte uns in Europa daran gelegen sein, das Mittelmeer nach unseren eigenen Sorgen "als zweites Terrain der Solidarität" zu betrachten.
Dazu ein Vorschlag. Alle europäischen Länder, und andere wie die USA dazu, unterhalten in Rom ihre Kulturinstitute. Die Bundesrepublik übrigens geich vier - die Hertziana, das Goethe-Institut, die Villa Massimo und die Casa di Goethe. Die Schweizer besitzen eine grandiose Villa nahe der Via Veneto, die Österreicher einen imposanten Bau nahe der Piazza del Popolo. Die Polen sind da, die Franzosen glorios mit der Villa Medici, die Dänen, die Finnen - ein Vereinigtes Europa von kulturellen Außenposten in der alten Metropole Rom, dem alten Zentrum einer Welt.
Rom aber liegt am Mittelmeer. Wenn nur schon jedes dieser Institute einen Teil seiner Aktivitäten der Begegnung und Verständigung mit der islamischen Welt widmen würde - widmen müsste: ein Pflichtteil, durch politischen Entschluss vorgeschrieben. Warum immer nur Kunsthistoriker und Altphilologen? Warum nicht endlich mal Religionshistoriker, Islamwissenschaftler, Arabisten, Sozialethiker, Soziologen nach Rom entsenden? West-östlicher Divan, aus dem Zentrum des katholischen Christentums heraus. Den Dialog aufnehmen! Nicht mit Absichtserklärungen - mit konkreten Begegnungen. Ein institutionalisierter Verkehr über das Wasser hinweg, nach Alexandria, nach Tunis, nach Beirut. Nach Tripolis. Oder wenigstens einmal dies: die europäischen Institute chartern gemeinsam einen Dampfer, ein Boot der Begegnung und befahren, beladen mit Autoren, Künstlern, Musikern, Intellektuellen, Humanwissenschaftlern und Dolmetschern vier Monate lang zwischen Genua, Oran und Antalya das Mittelmeer. Ein Sommer für das Gespräch. Ein Dampfer für die Verständigung.
Der 1940 in Basel geborene Autor lebt und arbeitet heute als freier Publizist in Italien und Zürich. Er schrieb Literatur- und Theaterkritiken und leitete von 2000 bis 2004 das Schweizer Kulturinstitut in Rom.