JUGENDROMAN
Grit Poppes »Weggesperrt« verdient das Prädikat »besonders wertvoll«
Die Zwangserziehung Jugendlicher, staatlich legitimierte Gewalt und Drill bis zur physischen und psychischen Selbstaufgabe sind ein Stück sozialistischer Jugendheimpraxis, die in ihrer Drastik bislang literarisch nicht thematisiert worden ist. Nach ihrem schwarzhumorigen Wende-Roman-Debüt "Andere Umstände" erzählt Grit Poppe in "Weggesperrt" die Geschichte eines Mädchens, das ins Mahlwerk der sozialistischen Umerziehung gerät.
Man schreibt das Jahr 1988. Erzogen, dazu zu stehen, was ihr richtig erscheint und in ihrer jugendlichen Naivität sympathisch glaubwürdig, sieht sich die vierzehnjährige Anja unvermittelt mit totaler Entmündigung konfrontiert. Dabei hatte sie bisher eigentlich nicht wirklich verstanden, wogegen ihre Mutter sogar mit einer Mahnwache protestierte. Ihre Reibungsfläche war die Schule, vor allem Staatsbürgerkunde, wo sie bei den Mitschülern leicht punkten konnte.
Eine diffus spürbare Angst wird unvermittelt real, als sie aus dem Schlaf gerissen zunächst an Einbrecher glaubt. Später, in der Vernehmung zu den staatsfeindlichen Aktivitäten ihrer Mutter ist sie sich noch recht sicher, der Spuk würde schnell vorüber sein.
Doch dann irritiert es sie zunehmend, weder vom Fahrer, der sie in ein Durchgangsheim bringt, noch von den Erziehern zu erfahren, was sie erwartet. Das hat Methode. Gewissheit sind nur die Regeln, die Hausordnung, das Sprechverbot im Speisesaal und während der Arbeit, der abendliche Stubenappell mit dem Denunzieren kleinster Verfehlungen. Es werden Gruppenstrafen verhängt und die Meute funktioniert, prügelt und "erzieht die Schuldige" nachts wirksamer, als es die Erzieher dürfen.
Es folgen eindringliche Monate im Jugendwerkhof: 5.00 Uhr Aufstehen, erstes Schleifen beim Frühsport, Waschen, Zimmer reinigen, Frühstück nach Zeit, dann Arbeitssaal.... Einzelarrest lernt Anja kennen, weil sie verbotenen Kontakt mit Tom aufgenommen hatte. Aber es gibt auch Ausgang bei guter Führung. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gelingt ihr die Flucht weit weg zu Tante und Onkel.
Immer, wenn es in dieser Geschichte scheint, die dunkelste Stufe sei erreicht, und etwas wie Hoffnung aufleuchtet, kommt ein neuer Schatten. Polizeiliche Fahndung und die Feigheit des Onkels bringen sie zurück und in Arrest. Als ihr danach eine Erzieherin den ersten lang ersehnten Brief ihrer Mutter vorenthält, weil die eine Staatsfeindin sei, weiß Anja später nicht mehr, wie das geschah: der Stuhl und die Bedienstete blutüberströmt.
Sie landet im berüchtigten Jugendknast Torgau, mit nackt Ausziehen und Leibesvisitation bei der Aufnahmeprozedur, mit Haare ab und vergitterten Zellen. Die Sprache der Erzieher sind Befehle, sonst gilt generelles Sprechverbot. Laufschritt ist die Fortbewegungsart.
Der einzige Lichtblick - doch nur für den Leser - ist das Wissen: Mit dem nahen Ende der DDR wird auch die "sozialistische Umerziehung" zu Ende sein. Drill und Schikanen hält das Mädchen aus, weil sie Tom, ihren Freund, eine Etage tiefer weiß, und weil er ihr einen Kassiber zustecken konnte mit einer Adresse in Leipzig "für die Zeit danach".
Nach einem schweren Sturz beim Strafwischen einer Eisentreppen gelingt ihr erneut die Flucht, diesmal aus dem Krankenhaus, und ihr gelingt das Untertauchen in der Stadt, in der die blutigen Übergriffe gegen die Besucher der Nikolaikirche Angst verbreiten - bis zu jenem 9. Oktober, als die Polizeiketten wie durch ein Wunder zurück weichen vor der Menge und ihrem Satz: "Wir sind das Volk". Anja ist dabei und man kann mit ihr in den Glücksrausch jenes Augenblicks eintauchen, in dem der ganze Spuk sich auflöst.
Wenn ein Buch das Prädikat "besonders wertvoll" verdient, ist es dieses - und spannend zu lesen ist es obendrein, nicht nur für Jugendliche.
Weggesperrt,
Roman
Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2009,
332 S., 9.95 ¤