WEST-BERLIN
Zwei Bücher erzählen die Geschichte der halben Stadt bis zur Einheit
In Berlin begann das denkwürdige Jahr 1989 mit einer lokalpolitischen Überraschung: einer rot-grünen Senatskoalition von Sozialdemokraten und Alternativen. Es endete mit einer weltpolitischen Sensation: die Mauer öffnete sich. Seitdem existiert jene halbe Stadt namens West-Berlin nicht mehr, eines der merkwürdigsten politischen Gebilde des 20. Jahrhunderts.
Seither ist neben der Sehnsucht nach dem eingemauerten Biotop mit seinem spezifischen Menschenschlag offenbar ein Bedürfnis gewachsen, die einmalige Vielfältigkeit dieses Mikrokosmos dokumentarisch aufzubewahren. Diese Mischung aus Sentimentalität und Geschichtsbewusstsein mag dazu geführt haben, dass zum 20. Jahr der Grenzöffnung in Berlin zwei Bücher über West-Berlin auf den Markt gekommen sind.
"Das alte West-Berlin" ist heute ein verächtliches Schimpfwort. Doch West-Berlin steckte nicht nur voller subventionierter Spießer und Korruptionsmief, sondern lebte immer von kreativen Ideen und aufrührerischer Veränderung. In Berlin wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Weltgeschichte geschrieben: Teilung, Blockade, Mauerbau, Mauerfall. Was sich in dieser Zeit in der westlichen Halbstadt abspielte, erzählt Wilfried Rott in seiner "Geschichte West-Berlins". Sie ist ein Versuch, 52 bewegte, phasenweise dramatische Jahre auf der "Insel der Merkwürdigkeiten" kompakt darzustellen.
Vielleicht ist es zu früh für eine abgerundete Gesamtschau. Denn noch ist der Blick auf die Geschichte West-Berlins, obwohl abgeschlossen, nicht frei. Aus dem trotz Spaltung dauerhaft osmotischen Verhältnis zwischen beiden Stadthälften ergeben sich laufend neue Aspekte und Erkenntnisse. Zum Beispiel der Fall des Polizisten Karl-Heinz Kurras, der 30 Jahre nach seinen Todesschüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg als bezahlter Stasi-Agent überführt worden ist. "Er zeigt auch", merkt Rott an, "was in dieser Stadt, und nur in ihr, möglich war."
Der Autor gesteht selbstkritisch ein, dass ein Zeithistoriker, der zugleich Zeitzeuge ist, das Subjektive vom Objektiven nicht gänzlich trennen kann. In der Tat ist seinem Buch häufig anzumerken, wie seine Sympathien verteilt sind - trotz des durchgehenden Bemühens, zumindest die Persönlichkeiten der Regierenden Bürgermeister, gleich welcher Partei sie angehörten, fair zu beurteilen. Mit eindeutiger Wortwahl benennt er "verbales Wüten" der Berliner Springer-Presse. Ungeschönt stellt er dar, wie sich West-Berlin in argen Wirtschaftsverhältnissen behaglich einrichtete, wie Missstände bei der Protektion parteiischer Postenvergabe fortlebten, wie sich lokale Politiker ebenso wie weltbekannte Künstler in unsinnigen Personalfehden verhedderten. Kenntnisreich und bewundernd beschreibt Rott die Anstrengungen, in West-Berlin ein hochklassiges Kulturleben zu etablieren.
Manche Abschnitte wie diejenigen über Korruptionsfälle, Spendenaffären und Bauskandale hat Rott allzu genüsslich anekdotenreich ausgewalzt. Andere Fakten wie der oft maßgebliche Einfluss der Sender SFB und RIAS oder die Rolle des "Tagesspiegel"-Verlegers Franz Karl Maier kommen zu kurz, ebenso bleiben Sportereignisse und die Geschichte des SED-Ablegers SEW unbeleuchtet.
Eine ergänzende, aber unübersichtliche Stoffsammlung bietet der Artikel-Sammelband mit dem seltsam abgehackten Titel "War jewesen". Auch in ihm spielt der schießwütige West-Berliner Polizist und Stasi-Spitzel Kurras eine Rolle. Es sind sogar 17 Seiten aus der Akte "Bohl" des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit im Faksimile wiedergegeben, die ohne Kommentierung das Doppelgesicht der geteilten Stadt erkennen lassen. "Berlin ist, an allen Ecken, konsequent mit Inkonsequenzen durchsetzt", schrieb Walter Höllerer vor mehr als 30 Jahren in "Die Zeit". Ähnliches hat 1994 Hans Christoph Buch gemeint, als er von der "Schizophrenie" und der "Paradoxie" des Lebens in der geteilten Stadt sprach.
Von den Varianten des West-Berliner Daseins im Zeitraum vom Mauerbau 1961 bis zur Vereinigung 1989 will das Buch berichten, kündigt Mitherausgeberin Gabriele Wachter an. Dies wird aus etlichen Blickwinkeln - überwiegend von links - versucht. Aber die Beiträge sind thematisch unverbunden und zeitlich zusammenhanglos aneinandergereiht, ohne dass ein Zentrum oder ein roter Faden erkennbar ist. Vielleicht steckt hinter dieser Anti-Systematik der Gedanke, so würde die chaotische Struktur der Stadt ("West-Berlin ist viele Zentren - überall dort, wo Karstadt ist", meint Mitherausgeber D. Holland-Moritz) am ehesten sichtbar.
Das wirre Themen- und Stil-Sammelsurium umfasst eine bunte Reihe von der Schauspielerin Brigitte Mira bis zu dem Anarchisten Bommi Baumann, von dem Schriftsteller Sten Nadolny bis zum Bahnhof-Zoo-Kind Christian F. Viele in den Band aufgenommene Texte wie Fritz Teufels hintergrundloses Geblubber über seine "Spaßgerillja" (1975) oder Baumanns unkontrolliertes Geplapper von der Wandlung der "Haschrebellen" zur militanten Stadtguerilla (1975) sind nur für Liebhaber linken Unfugs reizvoll. Neben etlichen ziemlich beliebig aus Zeitungsarchiven herausgesuchten älteren Artikeln und dem Nachdruck eines jüngeren, zornigen Interviews mit dem Verleger Klaus Wagenbach stehen Zeitdokumente wie die Schilderung einer üblen Denunziation des Fernsehunterhalters Hans Rosenthal ("Ich passte nicht ins Bild"), wie sie wohl nur in Berlin möglich war, oder der Einblick in das Binnenleben der legendären Kommune I von Ulrich Enzensberger. Neben einer niveaulosen Erinnerung an Transitfahrten und dem missratenen Portrait eines stadtbekannten Playboys stehen humorvolle und originelle Beiträge wie der von Claudia Markert über ihre unerschütterbare Fantreue zum Fußballverein Hertha BSC.
Zu viele Texte sind Charlottenburg-zentiert. Das Cafe am Steinplatz, die Autorenbuchhandlung in der Carmerstraße und die Kneipe Zwiebelfisch an der Grolmannstraße kommen so häufig vor, dass der Eindruck entsteht, dort seien West-Berlins Zentren gewesen. Abgesehen davon ist Ute Büsings Streifzug rund um den Savignyplatz intelligent und amüsant. Häufig schwingt Wehmut mit. "Es war eine begrenzte Welt, die wir aber nicht als solche wahrnahmen und deren Außergewöhlichkeit wir hegten und pflegten", schreibt Kerstin Schilling und sagt vorher: "Die Ur-West-Berliner bleiben weiter unter sich."
Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 478 S., 24,90 ¤
War jewesen. West-Berlin 1961-89.
Parthas Verlag, Berlin 2009; 280 Seiten, 24,00 ¤