Irina Kukutz
Das Gründungsmitglied des Neuen Forums hat sich auf die Spuren der DDR-Bürgerrechtsbewegung gemacht und ihre Chronik vorgelegt
Sie beschreiben Ihr Buch als Teil der "ungeschriebenen Autobiografie des Neuen Forums". Wie kam es zu dem Projekt einer inneren Chronik des Neuen Forums?
Angefangen hat es damit, dass die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufes "Aufbruch 89 - Neues Forum" im Jahr 2000 den Deutschen Nationalpreis verliehen bekommen haben. In diesem Zusammenhang hat die Robert-Havemann-Gesellschaft den Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung erhalten. Der wiederum war gebunden an den Zweck, die Geschichte des Gründungsaufrufes zu erforschen und zu dokumentieren. Mir wurde diese Aufgabe von der Robert-Havemann-Gesellschaft übertragen, weil ich kurz zuvor den Bestand zum Neuen Forum im Havemann-Archiv erschlossen hatte, insgesamt 40 laufende Meter Akten. Ich kannte also die wesentlichen Archivbestände und hatte bemerkt, für die Gründungsgeschichte selbst und die Geschehnisse im Raum Berlin fehlt eine Beschreibung. Diese Lücke sollte durch Auswertung unserer eigenen reichlich vorhandenen Quellen geschlossen werden.
Wo sehen Sie Differenzen und Reibungen zwischen der Selbstwahrnehmung der Akteure aus dem Neuen Forum, zu denen Sie selbst bis 1994 gehörten, und der Wahrnehmung durch die Geschichtsschreibung?
Ich denke an solche Thesen, wie sie von manchen Historikern im Raum stehen, das Neue Forum hätte nach ein paar Wochen seine Faszination und Kraft eingebüßt und sei dann schnell unwichtig geworden. Weil ich selbst dabei war, weiß ich, so war es nicht. Zum Beispiel: Das wichtige Stasi-Unterlagengesetz hätte es nicht gegeben, wenn nicht im September 1990 Bürgerrechtler in der Normannenstraße das Archiv besetzt hätten und sich in der Volkskammer Gehör verschafft hätten. Das waren Aktionen, an denen das Neue Forum und seine prominenten Vertreter maßgeblich beteiligt waren. Und für uns aktiv Beteiligte ist es ja auch nach 1990 weiter gegangen. Ich selbst fand mich Ende 1990 auf der Liste von Bündnis 90 im Berliner Abgeordnetenhaus wieder. Wir, Sebastian Pflugbeil, Reinhard Schult und ich, haben dort ja noch eine Weile als Neues Forum versucht, Einfluss zu nehmen. Ein weiterer Punkt ist wichtig: Als ich diese Archivmaterialien zum Neuen Forum gesichtet hatte, war ich schon überrascht, mit wie viel Themen sich Menschen plötzlich anfingen zu beschäftigen. Menschen, die vorher buchstäblich nur stumm in der Ecke gesessen hatten! Plötzlich haben sie Initiativen und Konzepte entwickelt. Diese Themenbreite war mir nicht mehr bewusst und die kommt auch in der Geschichtsschreibung nicht vor. Ebenso wenig die Kreativität der vielen unbekannt gebliebenen Menschen.
Was hat Sie am meisten überrascht bei der Arbeit an dieser Chronik? Was war auch für Sie selbst neu?
Obwohl ich im Sommer 1989 wusste, dass eine politische Vereinigung, die "Forum" heißen sollte, vorbereitet wurde, kannte ich die Einzelheiten nicht genau. Ich wusste, Bärbel Bohley und Katja Havemann sind dafür durchs Land gereist und haben Kontakte aufgenommen, um herauszufinden, wer an der Gründung teilnehmen könnte. Wer dann aber wie dazukam, war mir nicht bekannt. Wie zum Beispiel Rolf Henrich ein Gründungsmitglied wurde, war überraschend für mich und auch wie sein Manuskript "Der vormundschaftliche Staat" im Frühjahr 1988 mit Hilfe der beiden Frauen in den Westen gelangt ist. Bei meinen Recherchen stellte sich heraus, dass es Marlies Menge, die Korrespondentin der "Zeit" war, die es in einer Konfektschachtel über die Grenze brachte.
Was ich noch bemerkenswert finde: Dass da im Vorfeld so viele mutige Frauen beteiligt waren, die beispielsweise auch für den Fall von Henrichs Verhaftung ein Video mit ihm drehten, das in den Westen gebracht wurde.
Sebastian Pflugbeil spricht im Buch über die "Machtmuffligkeit" der DDR-Bürgerrechtler. Sehen Sie das auch so?
Ein aktuelles Beispiel: Im Berliner Abgeordnetenhaus haben kürzlich die Grünen einen Entschließungsantrag zum Thema "20 Jahre Neues Forum" mit dem Ziel eingebracht, feierlich an den Gründungsaufruf vom 10. September 1989 und das Bürgerengagement zu erinnern. Und was passierte mit dem Antrag? Am Ende wurde der Antrag in den Kulturausschuss verwiesen, weil SPD und Die Linke meinten, ein Antrag zum 9. November sei ausreichend. Nachdem ich das sah, wusste ich wieder genau, warum wir so machtmufflig waren. Warum wir nicht in Parteien um die Macht rangeln wollten.
Diese Debatte im Abgeordnetenhaus zeigt wieder einmal, wie sich ein Anliegen im Parteiengezerre in sein Gegenteil verkehrt. Bürgerbewegte, die das sehen, müssen das wie einen Schlag ins Gesicht empfinden. Mir wird in solchen Momenten wieder klar, warum wir nicht unbedingt weiter am Katzentisch der Macht sitzen wollten.
Es geht für den Großteil der Politiker nur noch um sie selber und es stört sie nicht, wie das nach außen wirkt. Man kann sich wirklich nur wünschen, dass viele junge Leute wieder Lust bekommen, sich mehr einzumischen. Auch um klar zu machen, wie absurd das alles ist. Ich finde, selbst diese etwas skurrilen Flashmob-Versammlungen mit politischem Hintergrund sind ein Anfang dafür wie auch auch das Entstehen der Piraten-Partei.
Was wären aus Ihrer Sicht sinnvolle Felder und Themen für die zukünftige DDR-Forschung?
Durch die Chronik, so hoffe ich, tun sich einige Teilfragen auf, die noch genauer zu verfolgen wären. Ich finde zum Beispiel das andere Politikverständnis von Frauen interessant. Die Frage, warum sich Frauen, obwohl sie anfangs alles angeschoben haben, teilweise auch die Mutigeren waren, dann doch wieder von der politischen Bühne zurückgezogen haben.
Weitere interessante Themen sind die Öffentlichkeitsarbeit des Neuen Forums, die ganzen Zeitungsgründungen, Infoblätter und Bulletins. Was sich da an Kraft und Initiative entwickelt hat, ist eine nähere Betrachtung wert. Sehr interessant wäre auch, die Beziehung von West-Grünen und Bürgerbewegung genauer zu untersuchen.
Berlins Regierender Bürgermeister, Klaus Wowereit, bedankte sich bei der Eröffung der Ausstellung "Friedliche Revolution 1989/90" auf dem Alexanderplatz auch bei jenen Bürgerrechtlern, die gescheitert seien. Muss sich das Neue Forum unter dieser Rubrik einordnen?
Ich frage mich bei der Gelegenheit immer: Was heißt scheitern? Bärbel Bohley hat ihren einleitenden Beitrag für die Chronik überschrieben mit dem Satz: "Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, wenn sie zerfällt." Und ich denke, zerfallen bedeutet nicht: sich auflösen. Zerfallen bedeutet, dass da ja noch alle Bestandteile da sind -und genau so sehe ich das. Wir sind doch alle noch da, wenn auch nicht immer an öffentlicher Stelle. Ich fühle mich doch nicht bedeutungslos, weil ich nicht mehr im Abgeordnetenhaus bin. Ich habe doch meinen Platz dennoch in der Gesellschaft.
Wenn ich beispielsweise meine Arbeit im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft nehme: Ich staune, wie viele junge Leute gerade in den letzten anderthalb Jahren, in denen ich die Leitung des Archivs übernehmen durfte, mit großem Interesse zu uns gekommen sind: Abiturienten, Studenten, darunter viele Westdeutsche, die keine DDR-Kindheit haben, keine hier aufgewachsenen Eltern. Es sind Menschen, die sich für die Bürgerbewegung in der DDR interessieren, die viele, genaue Fragen stellen, auch nach dem Alltag von Jugendlichen damals oder nach der Rolle von jüngeren Leuten in der Bürgerbewegung. Das ist eine sehr sinnvolle Arbeit, die mir viel gibt.
Ist die Zukunft des Havemann-Archivs gesichert?
Es wäre sehr wünschenswert, wenn Politiker wie Herr Wowereit nicht nur an Jahrestagen unsere Arbeit schätzen lernen und Sorge dafür tragen würden, dass uns nicht an jedem Jahresende die Arbeitslosigkeit droht, weil das Archiv noch immer keine Grundfinanzierung hat. Würdigungen und Dankesreden an Jahrestagen sind das eine - für eine kontinuierliche Arbeit braucht es mehr.
Das Interview führte Christiane Baumann.
Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989-1990.
Basidruckverlag, Berlin 2009; 373 S., 19,80 ¤