DDR
Roman Grafe präsentiert 22 Geschichten von Aufbegehren und Staatshörigkeit
Die meisten waren halt Mitläufer", meinte eine Schülerin im sächsischen Hoyerswerda, als über den Schießbefehl und Zwänge in der DDR diskutiert wurde. Sie fügte hinzu: "Wie heute auch." Eine ehrliche, zugleich bedenkliche Aussage. Hat sich seit der Vereinigung Deutschlands nicht viel geändert im östlichen Teil? Ist auch im Westen eine Grundhaltung verbreitet, die das Anpassen und das Wegsehen begünstigt?
"Die Menschen hier mussten ja mitmachen", sagte ein Schüler aus dem früheren DDR-Grenzdorf Geisa. Eine Mitschülerin korrigierte ihn: "Aber nicht alles."
Von Menschen, die sich dem Druck entzogen haben, erzählt das Buch "Die Schuld der Mitläufer". Es enthält 22 Geschichten von Staatshörigkeit und vom Aufbegehren. Roman Grafe, Autor der Teilungs-Chronologie "Die Grenze durch Deutschland", hat Zeitzeugnisse gesammelt, die belegen, dass niemand in der DDR ein Widerstandskämpfer gegen den SED-Staat sein musste. Die belegen, dass es möglich war, unterhalb der Reizschwelle der staatlichen Organe standhaft zu bleiben, ohne Drangsalierungen befürchten zu müssen. Widerstand in der DDR habe "viele Facetten" gehabt - vom Ulbricht-Witz über den Fluchtversuch bis zur offenen Opposition, erläutert der Liedermacher Wolf Biermann. Er hat diese Episode aus dem Jahr 1953 notiert: Ein 15-jähriges Mädchen an einer Schule der mecklenburgischen Kleinstadt Gadebusch wurde aufgefordert, sich von der Kirche zu distanzieren. Ihre feste Antwort: "Nein. Ich glaube an Gott." Wie es ihr ergangen ist, schreibt Biermann nicht. Jedenfalls ist sie ein beeindruckendes Beispiel für Haltung.
Das Tempo von Biermanns furiosem Auftakt wird in diesem Büchlein nicht durchgehalten. Manche Beiträge sind blass, passen nur entfernt zum Thema und beweisen nichts. "Mal war ich Mitläufer, mal nicht", schreibt eine Frau, "wir waren brav." Alle schwiegen, die meisten wollten nichts wissen, berichtet einer, der zwangsumgesiedelt worden war. Von der vielgepriesenen "Solidarität" der Menschen in der DDR will er nichts hören. Einer "ekelte sich" vor sich selber, weil er, um Vorteile zu ergattern, zur DDR-Grenztruppe drängte, ein anderer sieht sich rückblickend als "kleinbürgerlich angepasster DDR-Bürger", eine Frau beschreibt, "wie ich erst später begann, mich zu wehren". Einen der schlüssigen Texte hat der Autor und Liedermacher Stephan Krawczyk geliefert: "Der Mitläufer weiß, wie es die Macht haben will." Ulrike Lieberknecht, Tochter eines thüringischen Dorfpfarrers, steuert die Deutung bei: "Das kollektive Handeln ersparte es viele Bürgern, ihren eigenen Weg in die Gesellschaft zu suchen und sich selbst behaupten zu müssen." Viele schützten sich selbst: "Aber das machen doch alle" oder "Ich mache alles mit, dann habe ich meine Ruhe".
Die ehemalige Dramaturgin Sibylle Schönemann, die nach der Wende den Film "Verriegelte Zeit" drehte, fragt nach der "Schuld" der Mitläufer: Haben sie "durch Tatenlosigkeit und Schweigen zum Erhalt des Systems beigetragen? Kann man sich durch Nichtstun schuldig machen?" Statt einer Antwort kommt sie zu einem brisanten Schlussgedanken. Nach der "eiligen" Vereinigung 1990 habe es "optimale Rahmenbedingungen für Täter und Mittäter gegeben: sich in den Erfordernissen der neuen Zeit auflösen, ein Unsichtbarmachen im Schatten der Eiligen". Verschwunden sind seitdem auch die Mitläufer. Auch diesem Buch gelingt es nicht so recht, sie sichtbar zu machen.
Grafes Resümee mit Blick auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit ist eine deutliche Warnung vor einer neuen Form des Mitläufertums: "Und doch ist es - im Osten wie im Westen - wieder nur eine Minderheit, die sich auflehnt, die Mehrheit passt sich brav an. Nicht aus Angst, sondern aus Gleichgültigkeit." Und Joachim Gauck bestätigt, "dass sich immer mehr unserer spaßwütigen Mitmenschen selber Ketten anlegen, obwohl kein Diktator in Sicht ist, der sie ihnen anlegen will".
Die Schuld der Mitläufer. Anpassen oder Widerstehen in der DDR.
Pantheon Verlag, München 2009.; 204 S., 14,96 ¤