China im 20. jahrhundert
Sabine Dabringhaus' Buch liefert überraschende neue Ansichten über das Reich der Mitte
Sabine Dabringhaus' 2006 erschienene "Geschichte Chinas. 1279-1949" gilt als geschichtswissenschaftliches Standardwerk. Die Autorin, die am Lehrstuhl für Außereuropäische Geschichte in Freiburg mit dem Schwerpunkt Ostasien forscht, hat nun eine weitere Arbeit zu China vorgelegt, die ebenfalls das Potenzial zum Standwerk hat. Auf dem aktuellen Stand internationaler Forschung einschließlich neuerer Forschung aus China analysiert Dabringhaus die Entwicklung Chinas seit dem 19. Jahrhundert.
Die umfangreiche Bibliografie des Bandes listet nur wenige deutsche Forscher auf. Findet international Forschung zu China an deutschen Hochschulen nicht statt? Schon die Einleitung zeigt, wie spannend und offen der Diskurs über Chinas Geschichte ist - und auch, wie neu. In der westlichen Forschung, so die Autorin, trat erst nach dem Ende des Kalten Krieges der Kommunismus als Leitmotiv in den Hintergrund. Zudem hätten lange Zeit sozialwissenschaftliche Analysen mit ihrem eher kurzen Zeithorizont westliche Darstellungen dominiert.
Uneinigkeit herrscht unter Historikern, wann überhaupt das "Jahrhundert der chinesischen Revolution" begann, ob mit den Opiumkriegen zwischen 1840 und 1860 oder mit dem Taiping-Aufstand. Vertreter der These von den Opiumkriegen betrachten den westlichen Imperialismus als Auslöser, die Taiping-Rebellen hingegen stehen für die Erosion des Jahrtausende alten Herrschaftssystems. Auch der Revolutionsansatz ist in der Forschung nur ein möglicher Zugang zur Interpretation der Entwicklung Chinas. Er habe die Schwäche, so die Autorin, in seiner Konzentration auf Dynamik und Ereignisse die tiefer liegenden Strukturen und Kontinuitäten nicht zu erfassen.
Ein Beispiel solcher Kontinuitäten ist die Form der Abwehr gegen den westlichen Imperialismus. Schon 1905 etwa gab es aus patriotischen Gründen Boykotte ausländischer Waren, damals wegen der verschärften Einwanderungsbestimmungen der USA. Nationalistisch begründete Boykotte und Massenproteste gegen andere Staaten setzten sich seither fort - bis hin zu Kampagnen im Umfeld der Olympischen Spiele - und sind kein Phänomen aus jüngster Zeit. Dabringhaus zeigt, dass der chinesische Nationalismus zunächst mit europäischen Ordnungsvorstellungen des modernen Nationalstaats nichts zu tun hatte, sondern sich ideengeschichtlich aus dem Konfuzianismus herleiten lässt.
Ein neuerer Ansatz in der Forschung stammt vom Oxforder Rana Mitter, der die Zäsur in den Studentenprotesten der so genannten "Vierte-Mai-Bewegung" von 1919 sieht. Dabei ging es um die Einführung einer für die breite Bevölkerung verständlichen Sprache und Literatur. An ihrem Ende stand die endgültige Abkehr vom Konfuzianismus, was sich wiederum im Aufkommen des Sozialismus spiegelt. Der bereits 1911 vollzogene Wechsel des politischen Systems von der Monarchie zur Republik sei lediglich formal gewesen. Dabringhaus macht an vielen weiteren Beispielen klar, warum es so wesentlich ist, sich mit den verschiedenen Sichtweisen zu befassen.
Der Band ist übersichtlich in fünf Abschnitte mit vielen Unterkapiteln gegliedert, in denen Einzelaspekte erläutert werden. Der erste Abschnitt zeigt den Konfuzianismus als politische Ideologie zur Sicherung des Fortbestands der Monarchie und Zuweisung der Individuen an ihre gesellschaftlichen Ränge. Geprägt ist das Herrschaftssystem durch ein hierarchisches, elitäres Gefüge von verwandtschaftlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Netzwerken. Einige Forscher betrachten die Kontinuität solcher Strukturen als Klammer für die Gesamtbetrachtung.
Breiten Raum nimmt die Diskussion der Modernisierung ein. Auch in chinesischen Städten entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung ein Bürgertum, dass als neue Ausdrucksformen Presse und Film für sich entdeckte. Es zeichnete sich zudem durch ein wachsendes Interesse an politischer Partizipation aus - eine "chinesische Aufklärung". Keineswegs wurde China die Moderne als etwas Fremdes übergestülpt. Dabringhaus arbeitet einleuchtend die Prozesshaftigkeit heraus. Sie zeigt daran, wie traditionelle, vom Konfuzianismus geprägte bürokratische Formen mit neuen Organisations- und Verwaltungsstrukturen verschmolzen. Vergleicht man die Abschnitte über die kurze Zeit der Republik und über die Strategien in der Ära Deng Xiaopings, die den wirtschaftlichen Aufschwung bewirkten, ergeben sich etliche Parallelen. Sie führen zu der Frage, wo China wäre, wenn Mao - dessen Herrschaft in ihrem Buch umfassend analysiert wird - nicht an die Macht gekommen wäre. Parallelen lassen sich auch an der Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus zeigen, der unter den aktuellen Machthabern als identitätsstiftende Kraft wiederentdeckt wurde. Schon in der Republik galt seine Belebung als Garant dafür, die Verwestlichung zu verhindern.
Die leicht verständlich vorgetragene Analyse des aktuellen Forschungsstands mit zahlreichen widerstreitenden Thesen, kurzen Schilderungen von Einordnungsproblemen und umfassenden historischen Details bietet teilweise überraschende Perspektiven. Fast ist die sachliche Reflexion als Kriegserklärung an vereinfachende Sichtweisen interpretierbar. Für die deutsche intellektuelle Kultur schon ungewöhnlich ist der Umstand, dass die Autorin wertende Schlüsse dem Leser überlässt.
Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 293 S., 22,90 ¤