Gefährliches Erfolgsmodell
China ist zum größten Förderer autokratischer Regime aufgestiegen
Gibt es Superlative, mit denen die Volksrepublik China seit ihrem unaufhaltsamen Aufstieg noch nicht bedacht worden ist? Schon jetzt ist die Hälfte der weltweit produzierten Kleidungsstücke und Schuhe mit dem Etikett "Made in China" versehen, und schon jetzt werden in China mehr Computer hergestellt als irgendwo sonst auf der Welt. Mit seinem gewaltigen Ressourcenhunger verschlingt das Land 40 Prozent des weltweit produzierten Zements, 40 Prozent der Kohle und 30 Prozent des Stahls. In Schanghai müssen die Stadtpläne alle zwei Wochen neu gezeichnet werden, weil Gebäude in einem halsbrecherischen Tempo hochgezogen werden. Und im Delta des Perlflusses schießt jedes Jahr eine Stadt von der Größe Londons aus dem Boden.
Die Konzentration auf Größe, Geschwindigkeit und statistische Daten verstellt den Blick auf eine weiter reichende Frage: Wie wird der Aufstieg Chinas das Wesen unserer Welt verändern? Der britische Politologe Mark Leonard versucht in seinem Buch "Was denkt China" Antworten auf diese Frage zu geben, die in dieser Pauschalität gar nicht umfassend zu beantworten ist. Es ist zum einen das Verdienst des Autors, bisher unbekannte Vorstellungen von Intellektuellen und Funktionären von der Zukunft ihres Landes zu präsentieren, zum anderen kommen Zweifel auf, wie repräsentativ diese Ansichten sein mögen, da Leonard vorwiegend die Elite des Landes zu Wort kommen lässt. Ständig zitiert er neue Experten, die der Leser kaum zuordnen kann, da sie einem der vielen Think-Tanks in dem riesigen Land angehören.
Noch interessanter als der wirtschaftliche Gigantismus ist die politische Entwicklung, zeichnet sich doch in China ein eigenes Kraftfeld an Ideen und Konzepten ab, das den Westen, aber vor allem die Entwicklungsländer bereits stark beinflusst. Diese sind immer weniger auf eine Anlehnung an den demokratischen Westen angewiesen, da China vor allem in Afrika, aber auch in Zentralasien und in Lateinamerika seinen Einfluss systematisch ausbaut.
China, so weist Mark Leonard schlüssig nach, ist für die ärmsten Länder der Erde sowohl Vorbild als auch Fürsprecher geworden, wobei sich das Verständnis von Entwicklung radikal verändert hat. In vielen Entwicklungsländern vertreten die Eliten die Ansicht, dass man dem chinesischen Modell folgen und zuerst wirtschaftliche und dann politische Reformen durchführen sollte. Das entspricht der politischen Linie der Führung in Peking, die zusätzliche Anhänger in aller Welt gewinnt, weil sie sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischt - auch wenn sie Birma, Simbabwe, Iran und Sudan heißen.
Verknüpft der Westen seine Hilfe mit der Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte, so kennt China - geleitet von einem exorbitanten Hunger nach Rohstoffen - nur ein Kriterium: Dient es den eigenen Interessen? Darüber hinaus hat es China erreicht, mit einer Reihe großer Gedanken assoziiert zu werden, die für Schwellen- und Entwicklungsländer attraktiv sind, zumal wenn sie Opfer des westlichen Kolonialismus waren. So geht aus einer neueren Umfrage des "BBC World Service" hervor, dass Chinas Einfluss in der Welt in 14 von 22 befragten Ländern von einer Mehrheit der Bürger positiv beurteilt wurde.
Leonard ist bemüht, die Entwicklung einer neuen chinesischen Weltsicht aufzuzeigen. Damit verbindet er die Überzeugung, dass Chinas Streben nach intellektueller Autonomie die Grundlage eines neuen Modells der Globalisierung bilden könnte. Zugleich berichtet er von den Versuchen chinesischer Denker, China den Zugang zu internationalen Märkten zu sichern und das Land zugleich vor zerstörerischen Stürmen zu schützen, die dieser Zugang im politischen und wirtschaftlichen System auslösen könnte.
Beunruhigt verfolgen westliche Experten, dass der Zusammenhang von Demokratie und wirtschaftlichem Wachstum durch das chinesische Beispiel widerlegt wird. Diktaturen in der ganzen Welt könnten sich durch ein Modell bestätigt sehen, das dem Einparteienstaat auch in der Globalisierung das Überleben sichert. Es ist die Schattenseite des chinesischen Aufstiegs, dass es durch seine Verbindungen mit problematischen Regimen zum größten Förderer der Autokratie geworden ist.
Was denkt China? Folgt man Leonard, so ist China noch immer in der "Mentalität der Großen Mauer" gefangen. Dabei gehe es nicht mehr um den Schutz des Landes vor fremden Eindringlingen, sondern um den Export der chinesischen Vorstellung von Souveränität. Mit seinen Sonderwirtschaftszonen testet China eine neue Marktphilosophie, um nicht unregierbar zu werden, bildet es regionale Bündnisse, und alternativ zu demokratischen Wahlen wird die Öffentlichkeit in großem Stil befragt.
China scheint auf dem Weg zu einem nichtwestlichen Modell zu sein, dem andere Länder nacheifern sollen. Mark Leonard entwirft das Bild einer "ummauerten Welt", in der die Nationalstaaten auf globaler Ebene miteinander zwar Handel treiben, aber die Kontrolle über ihr politisches System behalten. In dieser neuen Umgebung müssten westliche Politiker ihre eigenen Ideen anpassen, um in der Lage zu sein, ihre liberalen Werte noch verbreiten zu können. Denn es war ein Fehler zu glauben, China würde mit wachsendem Reichtum dem Westen immer ähnlicher.
Was denkt China?
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009; 199 S., 14,90 ¤