Kultur
Die Historiker Axel Schildt und Detlef Siegfried haben sich an einer Kulturgeschichte der Bundesrepublik versucht. Das gut lesbare Ergebnis bleibt leider erneut eine Chronik für Wessis
Jetzt ist es schon wieder passiert. Kaum, dass die Kritik verpufft ist, richtet sich die Berliner Republik erneut in ihrer westwärtigen Schieflage ein. Eine im Frühjahr von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnete Kunstausstellung hatte heftigen Widerspruch provoziert. Unter dem Titel "60 Jahre. 60 Werke" wollte damals ein Team rund um die Bonner Stiftung Kunst und Kultur und den Berliner Axel-Springer-Verlag einen großen Parcours durch die deutsche Nachkriegskunst schlagen. Dabei aber ist den Ausstellungsmachern ein Fauxpas unterlaufen: Denn ihr deutscher Nachkrieg kam nur bis Helmstedt und Herleshausen.
Das Kunstschaffen in der DDR, es wurde in dieser groß angekündigten Leistungsschau zur Kunst nach 1945 schlicht unterschlagen. Schnell war das Feuilleton alarmiert. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, so der bald im Raume stehende Vorwurf, denken selbst die größten Geister noch immer deutsch-deutsch.
Vieles hätte man aus dieser Debatte lernen können: Eine Lektion über das Mauern in den deutschen Köpfen und über den Grabenkrieg in der deutschen Kultur. Aber Nein! Es ist schon wieder passiert. Diesmal nicht in einem großen Museum, sondern in einem 700-seitigen Wälzer zur hiesigen Kulturgeschichte. Wieder kommen die Kunstspalter aus dem Westen; und wieder münden alle gesamtdeutschen Bemühungen nur im Stacheldraht einer typisch innerdeutschen Begrenztheit.
Zwei westdeutsche Historiker - der eine sozialisiert in Schleswig-Holstein, der andere im weit urbaneren Hamburg - haben dieser Tage ein Buch vorgelegt. Ein Buch, das dem Titel nach nicht weniger sein will, als eine "Deutsche Kulturgeschichte". So weit, so gut. Ähnliches hatte 1997 schließlich schon der Nürnberger Kulturhistoriker Hermann Glaser und 2006 der in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Jost Hermand versucht. Doch dann schaut man genauer hin. Und da wird es dann offenbar: Bei dieser neuen deutschen Kulturgeschichte, die sich in ihrer Darstellung ausschließlich auf die Jahre 1945 bis in die Gegenwart konzentriert, handelt es sich nur um eine "halbdeutsche Kulturgeschichte". "Unsere Darstellung", so die beiden Autoren Axel Schildt und Detlef Siegfried bereits in der Einleitung "beschränkt sich auf den westdeutschen ,Kulturraum'." Denn auch wenn dieser nicht als isoliertes Gebiet betrachtet werden könne, so sei er durchaus als relativ selbständige Einheit zu verstehen.
Methodisch ist das sicherlich ganz ohne Fehl. Publizistisch aber ist mit dieser kleindeutschen Enge eine große Chance vertan worden. Denn statt die Nachkriegskultur im damals geteilten Deutschland in einer Art synoptischen Vergleich zu erzählen, vollbringen Schildt und Siegfried nur das, was schon so oft vollbracht worden ist: Sie erzählen eine Geschichte von Hüben, und bei Bedarf spicken sie diese mit ein paar Namen von Drüben. Letztere aber sind meist nur schmückendes Beiwerk. Nur an wenigen Stellen treten ostdeutsche Schriftsteller, Maler oder Filmemacher in diesem Buch auch einmal autonom in Erscheinung. Allenfalls reimt man Penck auf Immendorff und Christa Wolf auf Günter Grass. Es ist ein altes Spiel; geprobt in so vielen Aus- und Darstellungen seit dem Herbst von 1989.
Dabei war man vor Jahren schon weiter. Als 1997 der von Hermann Glaser verfasste Überblick "Deutsche Kultur" erschienen war, da hatte sich der damalige Chronist explizit davon überzeugt gezeigt, dass Ost- und Westkunst nicht für sich alleine stehen könnten. Bewusst hatte Glaser seine Chronik daher als eine "Kulturgeschichte dreier Republiken" konzipiert. Ein Ansatz, der nur allzu verständlich war. Schließlich gab es zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht nur zahlreiche kulturelle Transfers und Überschneidungen.
Die Kunst der beiden deutschen Staaten war seit jeher durch ihre gemeinsame Herkunft miteinander verbunden - durch eine Traditionslinie, die bis weit vor die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts reichte. Schildt und Siegfried schlagen all das in den Wind. Und so muss ihre "Deutsche Kulturgeschichte" trotz aller beachtlicher Tiefe am Ende unvollständig bleiben. Das ist bedauerlich. Schließlich handelt es sich bei den beiden Autoren nicht um wissenschaftliche No-Names. Im Gegenteil: Der eine, Axel Schildt, ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und Herausgeber eines Lexikons zur deutschen Geschichte; der andere, Detlef Siegfried, Associate Professor an der Universität Kopenhagen. Und zusammen, das unterstreichen sie mit ihrer "Deutschen Kulturgeschichte" durchaus, verfügen sie über immensen fachlichen Sachverstand. Im Gegensatz zu manchen Vorläufern nämlich arbeiten sie sich in ihrer in sieben große Kapitel unterteilten Darstellung nicht nur an einst einschlägigen Debatten der Feuilletons ab. Zwar tauchen auch bei ihnen markante Schlagworte auf - "Wiederbewaffnung", "Historikerstreit" oder "Verfassungspatriotismus" -, darüber hinaus aber sind sie bemüht, den mittlerweile fast unübersichtlich gewordenen Kulturdiskursen weitreichendes Know-how an die Seite zu stellen. Das merkt man besonders da, wo sich die Autoren zu Entwicklungen in den Einzelkünsten äußern.
Kenntnisreich wird von ihnen die Kontroversen um die Rolle der Fotografie in der Kunst oder um den Hip-Hop in der Popkultur beschrieben. Überhaupt: Der Kulturbegriff ihres Buches ist weit und offen. Orientiert an der Unesco-Erklärung von Mexico-City verstehen Schildt und Siegfried Kultur als "Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften, die eine Gesellschaft kennzeichnen". Gammler-Style und Internet-Dating finden daher ebenso Erwähnung wie Dokumentartheater und dekonstruktivistisches Bauen. Denn egal ob in Hamburger oder Frankfurter Schule - Kultur gelehrt wurde hier wie dort.
Schildts und Siegfrieds "Deutsche Kulturgeschichte" hätte also tatsächlich ein Meilenstein werden können - zumal sie übersichtlich gegliedert und leserfreundlich geschrieben ist. Doch man kann es drehen wie man will: An ihrer Westbindung kommt man nicht vorbei. Und leider verschafft diese dem Buch das beklagte deutsche Neigungsgefälle. Bleibt also zu hoffen, dass der Verlag sich bald entschließen mag, dieser "halbdeutschen Kulturgeschichte" die andere Hälfte noch hinzu zu geben. Am besten im zweibändigen Schuber. Dann wäre die deutsche Nachkriegskultur nämlich endlich komplett.
Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart.
Carl Hanser Verlag. München 2009; 596 S., 24,90 ¤