REPORTAGE
Peter Hessler machte den chinesischen Führerschein und bereiste das Land abseits der Metropolen
Wer in den Städten bleibt, um China kennenzulernen, und nur mit der Elite Kontakt hat, der wird nur Bruchstückhaftes über das riesige Land erfahren. Macht er sich aber auf die Suche nach den Menschen am Rande der Großen Mauer, dann öffnet sich ihm Chinas Innenleben in seiner ganzen Tiefe. Peter Hessler, langjähriger Peking-Korrespondent des "New Yorker", folgt mit dem Auto zunächst über tausende Kilometer dem Verlauf der Großen Mauer westwärts, häufig auf unbefestigten Landstraßen, weit und breit ist er der einzige Ausländer. Er verbringt Zeit in einem abgelegenen Dorf im Dunstkreis Pekings, das aber wie mit einer Nabelschnur der Metropole verbunden bleibt. Am Beispiel einer Fabrik im südöstlichen China schildert er schließlich, wie der Bau einer Autobahn in kürzester Zeit eine ganze Region umkrempelt. Dabei werden Hoffnungen und Enttäuschungen, der euphorische Aufbruch und der gnadenlose Konkurrenzkampf sichtbar, die mit dem chinesischen Aufschwung einhergehen.
Es ist ein sehr menschliches Buch; in jedem Kapitel ist die Anteilnahme des Autors am Schicksal der Dorfbewohner zu spüren, die von der Jugend alleingelassen oder von Chinas atemberaubender Entwicklung überrollt werden. Nachdem er im Eilverfahren die chinesische Führerscheinprüfung abgelegt hat, bricht Hessler auch in Gebiete auf, die für Ausländer gesperrt sind.
Straßenbau und Verkehrsregelung hinken hinterher; der Übergang kam so plötzlich, dass die Chinesen nicht mithalten können. Sie verwandeln Gehsteige in Überholspuren. Sie fahren einen Kreisverkehr in umgekehrter Richtung an, wenn ihnen das schneller erscheint. Viele fahren ohne Licht, bis es stockdunkel ist - dann schalten sie das Fernlicht ein. Der Sprung vom Ochsenkarren zum Automobil beschwört täglich neue skurrile Situationen herauf in einem Land, in dem die meisten Fahrer noch Anfänger sind und das Auto bis vor kurzem noch als Teufelszeug der Imperialisten galt.
Auf seiner Reise trifft Hessler auf Bauern, die mangels Geräten ihr Getreide entlang der Großen Mauer "zum Dreschen" auf der Straße ausbreiten. Das erspart Arbeit, auch wenn es gegen die Lebensmittelhygiene verstößt. Hessler begegnet Menschen, die seit Jahren im Rahmen eines Weltbank-Projekts in dumpfem Gehorsam tausende Löcher in den Boden graben, ohne dass bisher auch nur ein einziger Baum gepflanzt worden ist. Und immer wieder nimmt er Anhalter mit, die noch nie einen Ausländer gesehen haben und nur ein Ziel kennen: das Glück in den Städten zu finden.
Hessler hat die Gabe, das immer noch unbekannte Land durch die Reportage zu erschließen - lehrreich und amüsant, spannend und anrührend. Von den Bauern erfährt er bei der Fahrt an der Großen Mauer entlang mehr über deren wechselvolle Entstehung als im Gespräch mit Archäologen im fernen Peking.
Um noch enger mit dem Land und seinen Menschen vertraut zu werden, mietet sich Peter Hessler in dem Dorf Sancha nördlich von Peking ein. Es gibt meilenweit keine Ansiedlungen, und in dem Dorf, in dem nur noch ein Kind lebt, werden an verlassene Häuser handgeschnitzte Särge gestellt, für den Fall, dass die früheren Bewohner im Alter zurückkommen sollten. Hellseher werden dort geachtet, Geister gefürchtet.
Unvorstellbar arme Dorfbewohner wissen oft nicht, wer China regiert, nur der Name Mao hat sich ihnen tief eingeprägt. Respektlos, aber pragmatisch bedienen sie sich der Großen Mauer, um ihre Häuser auszubessern. Hessler lernt die Einsamkeit des Ausländers kennen und - als er einen schwer erkankten Jungen retten will - die Unerbittlichkeit von Bürokraten, die Vorschriften eines noch immer repressiven Systems über ein Menschenleben stellen.
Der Autor erlebt die Ergebnisse der "Entwickelt-den-Westen-Kampagne", die ein Gegengewicht zur boomenden Küstenregion schaffen soll. Eine Kampagne, die wenig erfolgreich ist, weil Ressourcen und die Nähe zum Außenhandel fehlen.
China verändere sich zu schnell, als dass man es sich leisten könne, allzu sehr auf sein bisheriges Wissen zu bauen, schreibt der Autor. Lebten 1978, zu Beginn der Reformpolitik, rund 80 Prozent der chinesischen Bevölkerung auf dem Land, so zogen bis zur Jahrtausendwende 90 Millionen meist junge Menschen in die Städte. Und nur weil er selbst monatelang mobil und unterwegs ist, erlebt Hessler einen Teil der größten Wanderungsbewegung der Menschheitsgeschichte mit.
Der reisende Journalist vermittelt das vielschichtige Bild eines Landes, das lange Zeit als unregierbar galt. Das Gegenteil zu beweisen, erforderte gewaltige Opfer. Und noch steht China vor seinen größten Herausforderungen: Die explosionsartige Motorisierung eines Teils seiner Bewohner zu beherrschen und ihre Folgen zu kanalisieren - zu einem Zeitpunkt, da der industrielle Wandel der Umwelt in der Volksrepublik schwerste Wunden schlägt.
Über Land. Begegnungen im neuen China.
Berlin Verlag, Berlin 2009; 556 S., 24,70 ¤