AFGHaNISTAN
Malalai Joya fordert den sofortigen Abzug der ISAF-Truppen
Noch immer kann man auf der Internetplattform YouTube die Videos anschauen, die vor sechs Jahren für Aufsehen sorgten: Die junge afghanische Abgeordnete Malalai Joya hielt am 17. Dezember 2003 in der Loja Dschirga in Kabul ihre kurze "historische" Ansprache. Bemerkenswert war die Rede vor allem deshalb, weil sie darin die Legitimität der Volksversammlung anzweifelte. Ihrer Meinung nach sollten die Kriegsverbrecher, die "das Land in dieses Elend gestürzt" hätten, vor "nationale und internationale Gerichte gestellt werden".
Einen Versöhnungsprozess, den viele der früher verfeindeten Abgeordneten der afghanischen Volksgruppen und Clans anstrebten, lehnte sie kategorisch ab. Stattdessen bezeichnete sie die erstmals seit 33 Jahren einberufene Volksvertretung als "Haus der Warlords". Da sie sich damit nicht zufrieden gab, sondern das Parlament als "Stall" und "Zoo" sowie die Abgeordneten als "Tiere" und "Drachen" beschimpfte, musste Joya im Mai 2007 ihr Mandat niederlegen. Anstatt sich als Abgeordnete für die Verabschiedung guter Gesetze zu engagieren, entschied sich die "Aktivistin" - so nennt sie sich selbst - für den "ruhmreichen Weg" in der Nachfolge der zahlreichen "Helden unserer Geschichte".
Der Leser erfährt von der innenpolitischen Entwicklung in Afghanistan und der Tätigkeit des Parlaments nur Allgemeinplätze. Es dominieren oberflächliche Kritik an den "Besatzungsmächten" und an den "westlichen Medien", die keine Ahnung von Land und Leuten hätten. Als "historische Kandidatin" fühlt sich Malalai Joya berufen, die Wahrheit beziehungsweise das, was sie dafür hält, zu verkünden. Dazu gehört die Behauptung, die Warlords würden bei den Parlamentswahlen 500 US-Dollar pro Stimme zahlen. Weder würdigt die Autorin, dass erst die internationalen Truppen die Terrorherrschaft der Taliban beendeten, noch dass sie und andere Frauen ohne den Schutz durch die ISAF niemals als Abgeordnete hätte kandidieren können.
Im Mittelpunkt steht Joyas eigenes, zweifelhaftes "Märtyrertum". Zugleich unterschlägt sie, wie viele Abgeordnete durch die Selbstmordattentäter der Taliban ermordet wurden und wie viele ihrer Landsleute bei Aufbauarbeiten in der Provinz ums Leben kamen. Erinnert sei hier nur an eine der ranghöchsten Polizistinnen Afghanistans, Oberstleutnant Malalai Kakar oder an die Provinzabgeordnete Sitara Achiksai. Stattdessen zieht es die Autorin vor, sich selbst als einzige Kämpferin in den Vordergrund zu stellen und andere weibliche Abgeordnete als "Fundamentalistinnen" zu verunglimpfen.
Das legendäre Symbol der afghanischen Freiheitskämpfe gegen die sowjetische Aggression und die Taliban, Achmed Schah Massud, verurteilt sie in ihrem Buch als "Feind Afghanistans". Ob es inhaltlich passt oder nicht, die Autorin zieht bei jeder Möglichkeit über ihn her. Dass Massud maßgeblich daran beteiligt war, dass Afghanistan weder unter kommunistische oder pakistanische Herrschaft geriet, ist ihr keine Zeile wert. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch Malalai Joyas Kritik an den USA: Während diese Passagen in einem politikwissenschaftlichen Stil verfasst sind, erinnert der übrige Text eher an schlechte Literatur. Der fachkundige Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass an diesem Buch auch Schreiber mitgewirkt haben, die lieber unerkannt bleiben wollen.
Von ihren eigenen politischen Überzeugungen lenkt Joya geschickt ab, indem sie sich über die "Warlords" mokiert. Erst am Ende ihres Buches hat sie ihr Coming-out: ihre ganze Bewunderung gilt dem politischen Kampf in Venezuela, Kuba und Bolivien gegen die USA. Nicht von ungefähr fordert Joya Washington auf, die "Besatzung" Afghanistans unverzüglich zu beenden. Dabei hinterfragt sie nicht, welches Schicksal ihrem Heimatland droht, sollten die ISAF wirklich abziehen.
Ich erhebe meine Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan.
Piper Verlag, München 2009; 304 S., 19,95 ¤