9. NOVEMBER 1989
Die Selbstbefreiung der DDR-Bevölkerung brachte der Nation ihre endgültige Gestalt
Wir sind ein Volk" klang 1989 überzeugender als heute. So geeint wie damals, als die Nation noch geteilt war, waren die Deutschen später kaum noch. 1989 sahen sie - bis auf das "Tal der Ahnungslosen" um Dresden - dasselbe Fernsehprogramm, aber die Ostdeutschen sahen es mit anderen Augen. Sie erkannten im Westfernsehen die bessere Hälfte Deutschlands, zu der viele gern gehören wollten - und nicht länger allein für den verlorenen Krieg zahlen.
Im Herbst 1989 schien der Traum in greifbare Nähe zu rücken. "Wenn 50.000 mit Leitern auf die Mauer zustürmen, gibt es keinen Schießbefehl mehr", sagte mir Ende 1988 Wolfgang Vogel, der DDR-Anwalt, der Zehntausenden den Weg durch den Eisernen Vorhang gebahnt hatte. Schon ein knappes Jahr später war es so weit: 11.000 erzwangen via Prag ihre Ausreise, 50.000 suchten über die ungarische Grenze den Weg in die Freiheit, viele Tausende fanden den Mut zur Teilnahme an den Leipziger Montagsdemonstrationen, bei der entscheidenden am 9. Oktober waren es 70.000.
Die SED-Führung befand sich in Panikstimmung. Gorbatschow hatte die Riege um den reformfeindlichen Honecker als Festgast zum 40. Geburtstag der DDR am 6. Oktober gewarnt: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Zudem hatte er den russischen Truppen in der DDR strikten Befehl gegeben, ihre Garnisonen nicht zu verlassen. Er brauchte die DDR als Festungsgürtel für das zerfallende Sowjetimperium in Osteuropa nicht mehr. Das spätkommunistische Regime in Budapest hatten seine Solidarität mit den Ost-Berliner Genossen bereits aufgekündigt, in Warschau regierte der bürgerliche Ministerpräsident Mazowiecki.
Mit Polizeiknüppeln ließ sich der gewaltlose Widerstand nicht mehr verhindern. Und Schusswaffen-Einsatz zu befehlen, traute sich das isolierte SED-Regime nun nicht. Seine letzte Hoffnung, die Revolution gegen seine Herrschaft zu ersticken, bestand im vom Politbüro erzwungenen Rücktritt Honeckers und der Ankündigung von Reiseerleichterungen. Zu spät. Der Fall der Mauer war nicht mehr aufzuhalten. Am 9. November durchbrachen die Ost-Berliner - vorbei an verunsicherten Grenzsoldaten - das verhasste Bollwerk.
Es war ein weltgeschichtliches Ereignis. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es die Folge einer friedlichen Revolution, einer Selbstbefreiung der ostdeutschen Bevölkerung war - der einzig erfolgreichen Revolution in der deutschen Geschichte. Es wäre Grund genug gewesen, den 9. November zum Nationalfeiertag aller Deutschen auszurufen.
Die Bedeutung des 9. November wurde aber zunächst nicht erkannt. Selbst Helmut Kohl sah die Chance für die Wiedervereinigung erst relativ spät. Wie in einer Schockstarre verharrte Bonn noch einige Zeit im Zwei-Staaten-Denken und war unfähig, die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen realistisch einzuschätzen. Auch das Verhalten der Siegermächte war nicht gleich erkennbar, denn sie hatten sich nach der Niederlage von 1945 das Recht vorbehalten, über das künftige Schicksal des untergegangenen deutschen Reichs zu bestimmen. Aber welche Wahl hatten sie? Es gab nach dem 9. November keinen zweiten deutschen Staat, der ohne Bonns Hilfe hätte existieren können. Schon Honeckers DDR wäre ohne die Milliardenhilfe vom Rhein zusammengebrochen. Und die selbst schon wankende UdSSR konnte und wollte nicht helfen; die DDR war für sie nur wirtschaftliche und politische Belastung.
Für die Linken verdunkelte der Termin des 9. November den Triumph der ostdeutschen Revolution. Der 9. November galt als unheilvolles Datum der deutschen Geschichte. Eine zufällige Übereinstimmung bei diesem Datum wurde zu einer historischen Prädestination umgedeutet. Am 9. November löste König Friedrich Wilhelm IV. 1848 die preußische Nationalversammlung in Berlin auf, während in Wien der Paulskirchen-Abgeordnete Robert Blum erschossen wurde. Am 9. November 1918 rief der Sozialdemokrat Scheidemann die Republik aus, um die Aufstände der Soldaten- und Arbeiterräte zu beenden. Am 9. November 1938 organisierten die Nazis Pogrome gegen die jüdischen Bürger.
Die Gründe für das Scheitern von 1848 sind zu komplex, um noch viel zu bedeuten. Eher enthält 1918 eine klare Lehre. Die damalige Entscheidung des Reichskanzlers Ebert, nach der Abdankung Kaiser Wilhelm II. die Machteliten des Reichs und Preußens aus Furcht vor einer bolschewistischen Revolution im wesentlichen zu erhalten, war einer der Geburtsfehler der Weimarer Republik. Das Ende ist bekannt. Insofern gehört auch der 9. November 1938 in diese Geschichte.
Aber Reich und Preußen sind 1945 untergegangen. Das "rote Preußen" in der DDR hatte die Lehren aus der Geschichte pervertiert. Die Meuternden handelten 1989 aus eigenem Recht, und schon gar nicht konnte man sie bestrafen, wie Günter Grass es wollte, indem man das Recht der Deutschen auf ihre Einheit bestritt, solange der 9. November 1938 und der Holocaust nicht gesühnt seien.
Es ist leichter, eine Revolution gegen als für etwas zu machen. Mauer und Stasi waren weg, die Grenzen offen, die Hoffnungen auf Kohls "blühende Landschaften" noch nicht enttäuscht. Aber wie weiter? Die Revolution war jetzt in den Händen der Politiker. Nun begannen die Fehlentwicklungen. Einige waren politisch unvermeidlich, wie der Währungsumtausch 1 zu 1. Bundesbankchef Pöhl war dagegen, aber Kohl sah keine andere Möglichkeit. Sonst hätten die Grenzen wieder dicht gemacht werden müssen, um den Zustrom zehntausender Ostbürger in den Westen zu verhindern. Der maroden DDR-Staatswirtschaft aber ohne große Schutzmaßnahmen das westliche Wirtschaftssystem überzustülpen, konnte nicht gutgehen. Die von der Treuhand betriebene "Sanierung" endete meist in der Pleite und in der Verschleuderung. Bis heute leidet die ostdeutsche Wirtschaft darunter.
Es war der Beginn einer neuen Teilung. Viele Ostbürger fühlten sich bald wieder als die "armen Brüder und Schwestern", arbeitslos oder schlecht entlohnt. Die beginnende DDR-Nostalgie rührte die Westbürger lange Zeit wenig, sie hatten die komplexe Überlebenskunst der Menschen "drüben" nicht begriffen. Erst in den vergangenen Jahren weckten Literatur und Film mehr Verständnis für das Leben in der DDR, besonders für die Allgegenwart der Stasi und ihre Methoden, die auch vor dem Privatleben nicht halt machten. Die Entfremdung beginnt so allmählich zu schwinden. Selbst das leichte Gruseln über die Wahlerfolge der PDS/Die Linke in den neuen Bundesländern nimmt ab, je mehr die Partei auch in Westdeutschland zulegt. Es ist ein paradoxer Effekt, der anzeigt, dass auch Adenauers alte Wirtschaftswunder-Bundesrepublik Vergangenheit ist und soziale Veränderungen im Zeichen der Krise Ost und West einander näher bringen können. Und wenn beide etwas eint, ist es die Entschlossenheit, SED und Stasi nicht wiederhaben zu wollen.
Trotz noch vorhandener Spannungen ist das vereinte Deutschland ein stabiler Staat. Der 9. November bleibt ein Tag zum Feiern für alle. Lehren aus der Geschichte kann man nicht wie in der Schule an die Tafel schreiben. Sollen sie Bestand haben, müssen sie in der Gesellschaft zur Tradition werden, und das ist in Alt-Neu-Deutschland weitgehend gelungen. Die Erfahrungen aus zwei Diktaturen und einer selbstverschuldeten Niederlage haben sich tief in das Bewusstsein eingegraben. Die Deutschen sind eine späte Nation. Sie haben anderthalb Jahrhunderte gebraucht, ihre endgültige innere und äußere Gestalt zu finden. 1848 war nicht nur die Bürger-Revolution, sondern auch die republikanische Reichsgründung missglückt. Erst die Revolution von 1989 in der DDR hat - ungewollt - den schmerzhaften Prozess der Nationwerdung beendet.
Der Autor war bis 2001
Herausgeber der "Berliner Zeitung".