EUROPÄISCHE UNION
Die Regionen des Kontinents buhlen um Geld und Einfluss
Ein Dienstagabend im Oktober. Auf dem Brüsseler Place Jourdan drängen sich Hunderte Menschen, aber heute einmal nicht um die berühmte Frittenbude. Vielmehr heißt es: "O'zapft is!" Das Oktoberfest beginnt, und 1.800 geladene Gäste schieben sich durch das Bierzelt. Kellnerinnen im Dirndl schleppen schwere Maßkrüge, die Kappelle schmettert ohrenbetäubend laut bayerische Volksmusik. Wenige Fußminuten von EU-Kommission und Europäischem Rat, einen Steinwurf vom Parlament entfernt hat die Bayerische Landesvertretung eingeladen. Der Ministerpräsident kommt persönlich aus München; der Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Etterbeek spricht ein Grußwort. Dutzende Bierbänke sind reserviert, für die Kabinette der EU-Kommissare, für Firmen wie Eon und BMW, für Großkanzleien und Regierungsvertreter.
Das Oktoberfest der Bayern ist ein Höhepunkt im vollen Kalender der Brüsseler EU-Szene, den sich niemand entgehen lässt. Doch er ist nur ein Termin in einer Stadt, in der beinahe rund um die Uhr irgendwo zum "Breakfast Briefing", zum "Lunch Roundtable", zu Empfängen, Vernissagen oder Diskussionsabenden eingeladen wird.
Genau wie Unternehmen und Verbände gehören dabei auch die Regionen zu den Lobbyisten an vorderster Brüsseler Front. Denn es geht für sie um Milliarden an EU-Geldern, um Förderprojekte, Entscheidungen in Sachen Infrastruktur und Forschung, um Verkehrskonzepte und grenzübergreifende Kooperationen. Wie wichtig Brüssel für die Länder ist, zeigt eine Entscheidung aus Wiesbaden von Mitte Oktober: Die hessische Vertretung wird ausgebaut, zu den schon jetzt 15 Mitarbeitern kommen acht weitere hinzu - für jedes Ministerium ein Referent. Offenbar weiß Ministerpräsident Roland Koch (CDU), was am Sitz der EU alles zu holen ist.
Dabei ist die hessische Landesvertretung schon jetzt eine der am besten vernetzten. Gleich am Parque du Cinquantenaire gelegen, der 1880 anlässlich der Weltausstellung erbaut wurde, hat sie ihren Sitz in einem prächtigen Patrizierhaus. Mit unter ihrem Dach arbeiten noch andere Regionen: die französische Aquitaine, die italienische Emilia-Romagna und die polnische Wielkopolska. Zu viert lässt sich noch besser herausfinden, was sich die Gesetzgeber in den 27 Kommissionen auf der anderen Seite des Parks als nächstes ausdenken wollen. Oder aber, was sie sich ausdenken sollen.
An einem Abend im September hat sich hoher Besuch angekündigt: EU-Kommissarin Viviane Reding eröffnet das Hessische Weinfest. Die Luxemburgerin gehört zu den mächtigsten Ressortchefs in der EU-Kommission. Sie brachte in der vergangenen Legislatur die berühmte "Roaming-Verordnung" durch - und nahm damit die Telekomriesen Europas an die Leine. Die können heute nicht mehr als bis zu vier Euro pro Minute abrechnen, wenn man im Ausland Anrufe auf dem Handy entgegen nimmt, sondern nur noch 46 Cent. Was einst ein großes Geschäft war, fand dank Reding ein jähes Ende.
Nun steht sie mit einem Glas Riesling in den festlichen Räumen am Parque du Cinquantenaire. Die Landesvertreter scharen sich um die elegante 58-Jährige, die in der neuen Kommission von Jose Manuel Barroso Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft werden soll. Doch das ist an diesem Septemberabend in Brüssel noch Zukunftsmusik. Heute geht es darum, Kontakte zu machen oder aufzufrischen.
"Weihnukka-Klänge" mit Ministerpräsident Christian Wulff bei den Niedersachsen, Erzgebirgischer Weihnachtsmarkt bei den Sachsen, Jugendherbergs-Treffen in der Vertretung von Castilla-Leon, Europäische Kulturtage beim Council of Cornwall: Jede der 271 Regionen der Europäischen Union will sich in Brüssel präsentieren - und Einfluss haben. Die EU-Kommission hat Deutschland mit seinen 16 Bundesländern in 39 Regionen eingeteilt, die aber von ihren jeweiligen Ländern vertreten werden.
Für die fast 500 Millionen Menschen, die in Europas Regionen leben, machen Tausende Vertreter das ganze Jahr über kräftig Lobby-arbeit. Und die kostet den Steuerzahler, allein schon für die Unterbringung: 20 Millionen Euro zum Beispiel kostete das Haus an der Rue Belliard, in dem das Land Baden-Württemberg seinen Sitz hat.
Die Bayern haben es besonders gut getroffen: Sie bezogen 2004 das mehr als einhundert Jahre alte Institut Pasteur du Brabant, im Schatten des Parlaments gelegen. Für 30 Millionen Euro bekamen die Münchner das Gebäude für einen Spottpreis und steckten weitere Millionen in Sanierung und Umbau. Doch nun geben sich im "Neuschwanstein Brüssels" so viele hochrangige Kommissions- und Regierungsvertreter die Klinke in die Hände wie nirgendwo sonst bei Landesveranstaltungen.
Den Regionen geht es vor allem um zwei Dinge: um Geld und um Gesetze. Zunächst zum Thema Geld. 347 Milliarden Euro bekommen die "Ziel-1-Gebiete" im Haushalt 2007 bis 2013 aus dem Kohäsionsfonds, dem mit Abstand größten Topf regionaler EU-Förderung. Nach Deutschland geht davon ein vergleichsweise kleiner Betrag von 26,3 Milliarden Euro; Sachsen erhält mit rund drei Milliarden das größte Stück vom Kuchen. Denn seit der Osterweiterung 2004 und dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien fließen die Hilfen vor allem in die strukturschwachen neuen Mitgliedstaaten. Aber auch Portugal, der Süden Spaniens und Italiens sowie die Ostküste Großbritanniens gehören zu den Fördergebieten. Ihr Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt liegt unter 90 Prozent des europäischen Gemeinschaftsdurchschnitts.
Doch drohen sich die Töpfe mit dem neuen Haushalt zu leeren. Die Planungen für die Finanzperiode nach 2013 haben bereits begonnen. Ein internes Papier der EU-Kommission, das Anfang November seinen Weg in die Medien fand, schreckte die Regionen auf und löste lauten Protest aus. Demnach sollen die 50 Milliarden Euro, die bisher jährlich an die Regionen gingen, künftig zentral an die Regierungen fließen. Der Grund: Barrosos Leute wollen größere Kontrolle darüber, wohin die Gelder fließen. Der EU-Rechnungshof machte in seiner jüngsten Bilanz Mitte November bekannt, dass 2008 drei Milliarden Euro allein bei den Förderprogrammen für strukturschwache Regionen durch mangelnde Aufsicht vergeudet wurden.
Ohnehin ist nicht nur in den EU-Etagen vielen ein Dorn im Auge, dass das Brüsseler Budget ein ganzes Prozent dessen darstellt, was die Gesamtunion pro Jahr erwirtschaftet. Und dass davon drei Viertel in den Agrarhaushalt gehen und in die Regionen. Nur ein Zehntel hingegen ist Berechnungen zufolge in solche Projekte geflossen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken. In Zeiten der Krise will das eine Mehrheit weder in Brüssel, noch in den Hauptstädten länger hinnehmen.
Die Repräsentanten der Regionen müssen sich beeilen, wollen sie im anstehenden Verteilungskampf wieder einmal ihre Pfründe retten. Doch sie kennen sich im Brüsseler Machtdschungel aus, so wie Gerhard Stahl, Generalsekretär im Ausschuss der Regionen (AdR), einem mächtigen EU-Organ mitten im Brüsseler Schuman-Viertel. Stahl sitzt in einem der obersten Stockwerke in dem hochmodernen Ausschussgebäude mit seiner riesigen Glasfassade. Aus seinem Bürofenster blickt er auf die Bayerische Landesvertretung, gleich dahinter ragt das Parlament in den Himmel. "Die hierarchische Idee, dass die Hauptstädte in Brüssel die Politik bestimmen, entspricht nicht der Realität", sagt der Deutsche geradezu trotzig.
Stahl weiß aus Erfahrung, dass die Regionen "mittelbar legislative Kompetenz" haben. Denn in 300 Büros in Brüssel sitzen Tausende Menschen, die tagein tagaus in der Umlaufbahn von Rat, Kommission und Abgeordneten sondieren. Wenn die Kommission eine neue Gesetzesinitiative für die regionale Ebene macht, finden die Experten aus den Generaldirektionen auch eine Vorlage des AdR in ihren Papieren. Geht der Entscheidungsprozess seinem Ende zu, konzentrieren sich die Regional-Lobbyisten auf die Kabinette der einzelnen Kommissare, in der Hoffnung ihre Interessen am Ende in den Vorlagen wieder zu finden. Nutzt das nicht, gehen sie in die Büros der EU-Abgeordneten. Und wenn auch das nicht ausreicht, dann geht es in den EU-Rat, wo die Mitgliedsländer ihr Plazet geben müssen.
Zudem profitieren die Regionen vom gerade ratifizierten Vertrag von Lissabon. Der verpflichtet die Kommission, den AdR zu konsultieren, wenn sie neue Gesetze mit Auswirkung auf die regionale oder lokale Ebene plant. Der AdR selbst soll künftig größeren Spielraum haben, eigene Themen auf die EU-Agenda zu setzen.
Aber das machen die Regionen ohnehin schon. Notfalls schließen sie sich zusammen, um beispielsweise mit EU-Mitteln geförderte Forschungsstandorte an sich zu ziehen. Diese Strategie hält der Luxemburger Claude Turmes ohnehin für die beste. Der Abgeordnete der europäischen Grünen-Fraktion lobt zum Beispiel das Netzwerk Erneuerbare Energien, in dem sich Modellregionen wie Niedersachsen und Bremen zusammengeschlossen haben. "Wenn sich Regionen auf konkrete Themen konzen- trieren, dann ist ihr Lobbying viel wirkungsvoller als das der größten Unternehmen", meint Turmes. "Wenn aber eine Region ganz allein ihre Interessen durchsetzen will, ist das wirklich blanker Lobbyismus." Der grenzüberschreitende Zusammenschluss aber, sagt der EU-Politiker, "das ist gelebtes Europa".
Die Autorin ist Korrespondentin
der WELT-Gruppe in Brüssel.