VERFASSUNG
Nicht enden will die Debatte, ob das Volk mehr Rechte erhalten soll - etwa durch bundesweite Referenden. Veränderungen gab es jedoch selbst im Zuge der Einheit nicht. Eine Klageschrift
Seitdem die DDR-Bevölkerung im Herbst 1989 ein stagnierendes politbürokratisches Kommandosystem in ein freies Land verwandelte, leben wir in einem demokratischen Gemeinwesen mit festgeschriebenen individuellen Menschenrechten, Meinungs-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, freien Wahlen in die politischen Körperschaften sowie persönlicher Freizügigkeit. Unser Land ist föderal strukturiert, was einer Überzentralisierung, einem Krankheitssymptom des DDR-Systems, entgegenwirkt. Zu jedem aufgezählten Stichwort kann man Kritik im Detail vorbringen, teils sehr einschneidende, aber auch notwendige, um nicht in Selbstzufriedenheit zu erschlaffen.
Wir sind ein Land ohne vom Volk in Kraft gesetzte Verfassung. Als Nationalhymne haben wir die Adenauersche Verlegenheitslösung der dritten Strophe eines poetisch mittelmäßigen Gedichts beibehalten. Zum 9. November konnte gerade noch der peinliche Irrtum vermieden werden, dass ein französischer Festchor auf dem Champs-Élysées aus Versehen die erste Strophe sang.
Beides, die Einlösung von Artikel 146 Grundgesetz und eine neue Hymne, wurden nach 1990 abgesetzt. Warum? Das Grundgesetz ist ausgezeichnet, wird mir geantwortet, und eine neue Hymne hätte nur uferlose Diskussionen provoziert. Außerdem: Jedes Referendum, auch für das vorhandene Grundgesetz, könnte gefährliche Überraschungen bringen. Übrigens hatten wir damals und haben wir heute Dringenderes zu erledigen. "Also vergiss die naive Politlyrik - ein gutes Grundgesetz ist vorhanden, und die Nationalhymne spielt ohnehin keine große Rolle."
Die zitierten Antworten sind ein Symptom des Grabens zwischen Volk und politischer Klasse. Es herrscht gegenseitiges Misstrauen, das sich auch nicht durch TV-gerechte Wahlkämpfe mit dem hohlen Mantra vom "Wachstum" und wortreiche Regierungserklärungen ohne konkreten Inhalt übertünchen lässt. Die Wahlbürgerschaft darf Kreuze zu Listen machen, die ausschließlich von den zur Berufsklasse gewordenen politischen Parteien aufgestellt werden. Plebiszite zu nationalen Fragen finden nicht statt. Warum nicht?
Ein vielstimmiger Chor antwortet mit drei Argumenten. Zusammengefasst: Das Volk ist zu unberechenbar und tendiert dazu, anstatt auf konkrete Fragen mit Denkzetteln an die Politik zu antworten. Es geht ohnehin immer weniger zur Wahl und wird ein Quorum nicht aufbringen. Außerdem kann ein Laie die hohe Komplexität der politischen Probleme nicht verstehen, also lasse alles bei der repräsentativen Vertretung.
Hier liegt eine Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Ist es nicht gerade die Verweigerung von direkter Einflussnahme, die Politik- und Parteienverdrossenheit und plakativen Populismus erzeugt und verstärkt?
Die reale Verfassung des Landes, durchaus nicht im Grundgesetz so festgelegt, konzentriert politische Macht in den Parteien, wodurch Teilung der Gewalten und notwendige "checks and balances" unterhöhlt werden. Legislative und Exekutive überlappen sich und sind miteinander verzahnt. In den vorderen Reihen des Parlaments sitzen Minister und Staatssekretäre - in den Vereinigten Staaten wäre das undenkbar. Verfassungsrichter werden ohne öffentliche Anhörung zum Teil von der föderalen Exekutive und zum Teil in einem Parlamentsausschuss nach Proporz benannt, ein Kuhhandel, der den Ruf der Gewählten als politisch unabhängige Richter belastet. Schließlich ist die Kontrolle der Politik durch das Parlament geschwächt. Sie erfolgt mit den zu kurzen Hebeln der jeweiligen Minderheit. Da sind Konstruktionsfehler offensichtlich.
Die Aufstellung der Kandidaten für die Parlamente und oft auch für öffentliche Ämter der Exekutive ist in den Händen von Parteien. Ohne dass ein Konfettiregen wie zu den Vorwahlen in den USA zu empfehlen wäre: Es ist aber wünschenswert, dass die Wahlbevölkerung größeren Einfluss auf die Kandidatur hätte, wie immer man das organisieren mag.
Diese Stichworte deuten auf notwendige Reformen der gesellschaftspolitischen Verfassung des Landes. Ihre Ablehnung läuft auf das Argument hin-aus, dass wir bisher gut gefahren und meine Vorschläge überdies illusionär seien. Meine Antwort ist, dass die Bundesrepublik noch keine wirkliche Krise erlebt hat. Das wird nicht immer so bleiben.
Wir stehen vor gravierenden ungelösten Problemen. Stichworte sind: globale Wirtschaftsvernetzung, Energiepolitik, Krieg in fernen Ländern, einschneidende Klimaänderungen, Gefährdung des planetaren Lebenserhaltungssystems, Belastung des Generationenvertrages durch die demographischen Trends usw. Es kann in absehbarer Zeit zu ernsten Krisen kommen. Die politische Konstitution des Landes muss darauf besser vorbereitet sein. Die Entfremdung zwischen Volk und politischer Klasse ist keine gute Voraussetzung.