VERFASSUNGSGESCHICHTE
Frankreich und die Vereinigten Staaten haben einen völlig anderen Umgang mit den Regionen
Nun haben wir Europäer also eine Doppel-Spitze. Eine - der Belgier Hermann Van Rompuy - verantwortlich für die Innen-, eine - die Britin Catherine Ashton - verantwortlich für die Außenbeziehungen. Die meisten Europäer dürften dies achselzuckend zur Kenntnis genommen haben. Ich wette, bei einer Umfrage könnten 98 Prozent nicht mal die Namen nennen. Soweit die öffentliche Meinung. Die veröffentlichte Meinung reagierte mit Skepsis, wenn nicht mit Enttäuschung: Der große "Ruck" bleibt vorerst aus. Es war eine typische EU-Kungel-Entscheidung, die eben auch zementiert: Die wahre Entscheidungsgewalt bleibt in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten. Man könnte sagen: Europa hält sich vom Zentralismus so weit fern, wie irgendwie möglich.
Diese aktuelle Personalentscheidung sei an den Anfang gestellt, weil sich im Verhältnis Frankreichs zu Europa seine Ambivalenz zum Föderalismus-Prinzip sehr gut beobachten lässt. Meine Korrespondentenzeit dort fiel in die Endzeit der ersten Präsidentschaft Chiracs. Es war die Zeit vor den großen Erweiterungen der EU und damit eine Zeit, in der sich die Frage der "Vertiefung", einer effizienten und demokratischen Organisationsform mit neuer Dringlichkeit stellte.
Eigentlich müsste ein starkes föderales Prinzip in der EU im Sinne eines zentral organisierten Nationalstaates wie Frankreich sein, denn es garantierte den Mitgliedsländern die größtmögliche Unabhängigkeit von der Zentrale. Aber die Abneigung dagegen ist so instinktiv, dass sie sich nicht durch Überlegungen der Zweckmäßigkeit überwinden lässt. Interessant war die Begründung eines französischen Kommentators für die Ablehnung des Föderalismus auf europäischer Ebene: Dann hätte ja Deutschland "gewonnen", nämlich indem es sein nationales Modell auf die supranationale Ebene erweitert hätte. Föderalismus und Zentralismus als Wettbewerb der Systeme! Neben der Furcht, Deutschland könne mit "seinem" Modell vorne liegen, gibt es aber auch eine fast mitleidvolle Sicht. Eine deutsche Kanzlerschaft, die sich in ihren Befugnissen von der Länderkammer eingeschränkt weiß - das wäre auf der anderen Seite des Rheins nicht akzeptabel.
Man erkennt also ein ambivalentes Verhältnis zum Zentralismus. Er ist tief in der Geschichte des Landes verwurzelt, und wie alle historisch gewachsenen Erscheinungen lässt sich über ihn nicht nur vom Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit aus diskutieren. Schon Gallien zur Zeit der Romanisierung entwickelt sich auf einen Punkt hin - damals gen Verkehrszentrum Lyon. Das Ziel war seinerzeit eine leichte Verwaltung durch Rom. Es ist ein Gemeinplatz, dass sich das Land später gewissermaßen von seinem Nukleus her zu den Rändern hin entwickelt hat. Aber die prägendste Erfahrung ist vielleicht die Zeit der Unruhen nach dem Tode Heinrichs des IV. Manche Historiker sehen in dem Gefühl der damals tief erlebten Unsicherheit und Bedrohung die Triebfeder für Kardinal Richelieus Entschlossenheit, den Absolutismus zu etablieren.
Es ist nicht zu gewagt, für Frankreich die Traumata der Unsicherheit und deren Überwindung durch den Absolutismus als Urerfahrung anzunehmen. Mit dem Zentralismus erreichte das Land schließlich eine unvergleichliche Stellung.
Die Revolution hat den politischen Inhalt ausgewechselt, aber die Form grundsätzlich belassen. Vielleicht hat sie den Zentralismus sogar noch gestärkt. Der "volonté general" im Sinne Rousseaus meint die Allgemeinheit. Von ihr geht die Volksgewalt aus. "La république" manifestiert sich in der Nation und strömt von dort wieder in die Glieder des Staates zurück. In Paris werden auch die Rahmenbedingungen für regionale Entwicklung entschieden. "Il est monté à Paris" sagt man, wenn jemand nach Paris versetzt wird; und das ist nicht geographisch gemeint. Er ist nach Paris "aufgestiegen".
Ganz anders in den USA, der anderen großen westlichen Demokratie. Frankreich gilt als Amerikas "first ally", als erster Verbündeter (gegen die Briten), und die beiden Länder haben sich in ihrem universalen Anspruch immer fasziniert und bisweilen kulturell abgestoßen. Der französische Historiker und Politiker Alexis De Tocqueville ging noch mit begeistert neugierigem Blick auf das junge Land zu. Später wandelte sich dies. Geschichtlich entstand das Land umgekehrt, was sich schon im Namen spiegelt: "Die (Plural!) Vereinigten Staaten von Amerika". Sie hatten als Kolonien noch wenig gemein, und das blieb auch in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit so. Interessanterweise spielte die Religion eine wichtige Rolle beim Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls. Manche sagen, Wanderprediger seien die Geburtshelfer der amerikanischen Revolution gewesen. Die Menschen strömten aus den Dörfern und umliegenden Höfen in die sogenannten "Revival-Zelte", wo in einer Mischung aus Religion und Show der Glauben "wieder zum Leben erweckt" wurde. Nicht im politischen Debattierclub - im Revivalzelt entdeckten Siedler aus verschiedenen Kirchen und Kolonien ihre ersten Gemeinsamkeiten. Aus den Zeltshows von einst sind große Kirchen geworden. Aber was Skeptiker misstrauisch macht, belebte damals wie heute auch das Selbstverständnis der Gläubigen: Wer glaubt, den lebendigen Gott selbst direkt erfahren zu haben - an Priestern und Konfessionen vorbei - der kehrt nicht als Schaf einer Herde in seine Kirche zurück. Das Konzept der Obrigkeitskirche ist Amerikanern fremd, dieses Selbstbewusstsein durchtränkt auch die gesamte politische Kultur: Wen die Wähler in die Staatshauptstadt oder gar die Bundeshauptstadt Washington schicken, der hat gefälligst den Auftrag der Wähler auszuführen.
Dieses Selbstbewusstsein der amerikanischen Wähler richtet sich nicht nur auf die gewählten Politiker, sondern zeigt sich in einem starken Misstrauen gegenüber den Regierungen auf jeder Ebene. Der Staat Kalifornien zum Beispiel hat die Möglichkeit, seinen Gouverneur per "recall" mitten in der Amtszeit abzuberufen und zu ersetzen. Die Regierung kann nicht mit einfacher Mehrheit die in den USA wichtigen Grundsteuern erhöhen; dafür sind fast unüberwindbare Hürden in der Verfassung verankert.
Im Gegensatz zu Frankreich entwickelte sich das Land gewissermaßen "von außen nach innen". Von Kolonien über einen lockeren Staatenbund nach der Unabhängigkeit zu einem echten Bundesstaat. Als die EU mit sich rang, ihre Institutionen entscheidungsfähig für eine stark erweiterte Union zu machen, standen für einen kurzen historischen Moment ähnliche Fragen im Raum wie diejenigen, denen sich die amerikanischen Gründungsväter gegenüber sahen. Denn so sah die gemeinsame Verwaltung der ehemaligen britischen Kolonien vor der Annahme der Verfassung aus: Es gab keine Exekutive, keine über das ganze Territorium hinweg erhobene Steuer, und Entscheidungen konnten nicht mit Mehrheit, sondern nur einstimmig gefällt werden. Das klingt doch fast genau so wie die EU vor ihren Reformen. Die amerikanischen Gründungsväter mussten für einen echten Bundesstaat eine nicht einfache Überzeugungsarbeit leisten, denn ein Bürger aus Virginia fühlte sich vielleicht ähnlich wie ein euro-skeptischer Pole oder Tscheche nach der Überwindung des Sowjetkommunismus: Gerade erst einer Zwangsherrschaft entkommen, zögert man, die neue Souveränität freiwillig in einem neuen Gemeinwesen aufgehen zu lassen. Der letzte Schritt war ein Wagnis, und er gelang nur, weil die Verfassung den Einzelstaaten große Unabhängigkeit einräumte.
Der Autor ist Erster Moderator
bei den Tagesthemen.