FÖDERALISMUS
Um zukunftsfähig zu sein, müssen die Länder mehr Verantwortung erhalten
Man kann den Föderalismus aus je unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Zum einen kann man ihn entweder aus seinem Herkommen aus der Vergangenheit rechtfertigen - oder aber ihn aus den Leistungen legitimieren, die er in der Zukunft erbringen sollte. Zum anderen kann man ihn vorwiegend als ein Instrument der Machtkontrolle verstehen - oder aber ihn als ein Mittel sozusagen der Steigerung der politischen Produktivität einsetzen.
Mit der geschichtlichen Ableitung des Föderalismus ist es bei uns nicht so weit her, wie man oft meint: Im Kontext der amerikanischen Verfassungsgebung, in der dieser Begriff zum Leben erweckt wurde, bedeutet federalism freilich das Gegenteil dessen, was wir landläufig so vermuten - nämlich Zentralismus; so hatten die Autoren der berühmten Federalist Papers eben für die Errichtung eines nord-amerikanischen vereinigten Zentralstaates plädiert. Diese unaufhebbare Kluft im Begriffsverständnis war übrigens der Grund dafür gewesen, dass der vormalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors vorsichtshalber nicht vom europäischen Föderalismus (ist nicht gleich federalism) sprach, sondern hilfsweise vom Prinzip der subsidiarité, vom Subsidiaritätsprinzip. Als guter Katholik kannte er eben die katholische Soziallehre, in der dieses Prinzip entwickelt worden war.
Man könnte meinen, seit den Tagen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation habe der Weg zur ersten deutschen Einigung notwendigerweise über Gliedstaaten führen müssen. Als aber der erste deutsche Nationalstaat 1871 errichtet wurde, war der Reichsrat als Vertretung der vermeintlich gleichermaßen souveränen Bundesfürsten nur eine Institution zur Camouflierung der Tatsache, dass Preußen im deutschen Reich ein erdrückendes Übergewicht hatte. Schließlich ließ die Tatsache, dass Otto von Bismarck die Ämter des preußischen Ministerpräsidenten und des deutschen Reichskanzlers auf sich vereinigte, keine Illusionen aufkommen. Auch die Weimarer Verfassung änderte an dieser Machtverteilung nichts Wesentliches. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Föderalismus ernstlich auf. Freilich, als damals die Länder nach dem Willen der Siegermächte gegründet wurden, dienten sie in erster Linie der Herstellung eines Mindestniveaus an Staatlichkeit; einen souveränen Bundesstaat hatte anfangs noch niemand im Auge. Der Weg über die Bi-Zonen und die Tri-Zonenverwaltung bis zur Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949, die 1955 so etwas wie einen Anschein echter Souveränität annehmen durfte, musste erst noch gegangen werden. In der DDR (vorher Sowjetische Besatzungszone) wurden die Länder so schnell wie möglich abgeschafft.
Wenn man allerdings historische Wurzelforschung betreibt, muss man feststellen, dass eine ganze Reihe der westdeutschen Bundesstaaten keine starke geschichtliche Basis hatte: Nordrhein-Westfalen war ein Kunstgebilde aus der Erbmasse Preußens, dem sich erst 1947 Lippe-Detmold anschloss; Niedersachsen - ebenfalls preußische Erbmasse - war erst entstanden, als unter britischer Aufsicht dem Land Hannover noch Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zugeschlagen wurden. Rheinland-Pfalz eine "Neugründung". Die Vereinigung der jeweils zweigeteilten Württemberger und Badener zum Südweststaat war in etwa so schwer gefallen wie eine Fusion von Bayern und Preußen. Das Saarland war in der Geschichte nie ein souveränes Land gewesen. Wenn man sich übrigens einen besseren Überblick über den früheren territorialstaatlichen Bestand verschaffen wollte, hätte man bis vor gut zehn Jahren die Karte der protestantischen Landeskirchen anschauen können: Da kann man zwar bis heute noch Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, Braunschweig und Anhalt finden, aber inzwischen haben einige der Landeskirchen etwas zustande gebracht, woran die Länder - mit der Ausnahme Baden-Württembergs - notorisch scheitern: nämlich eine Neugliederung.
Man sollte sich also für die weitere Diskussion nicht so sehr mit den schönen historischen Fiktionen und den ihnen unterliegenden realen geschichtlichen Linien aufhalten, sondern sich vielmehr fragen: Was kann uns der Föderalismus künftig bringen? Er kann zum einen - insofern hatte Jacques Delors mit seiner Interpretation des Subsidiaritätsprinzips durchaus Recht - dafür sorgen, dass zumindest die regionalen Verwaltungsentscheidungen eher bürgernah als zentralautoritär getroffen werden. Er dient außerdem gewiss der demokratischen Verteilung und Kontrolle der Macht. Doch gerade dieses Prinzip der Ur-Demokratie ist in den vergangenen sechzig Jahren recht stark ausgetrocknet.
Im Bundesrat hat sich ein Exekutiv-Föderalismus etabliert, in dem die Ministerpräsidenten ohne ernsthafte Mitsprache der ohnehin geschwächten Landtage agieren, mit nur mühsam zurück zu schneidender parteipolitischer Einrede in die Politik der Bundesregierung. Und auf dem Gebiet der einzig gewichtigen originären Länderzuständigkeit, der Kultur- und Schulpolitik, hat sich ein verfassungsfremder Krypto-Zentralismus eingenistet, bei dem in der Kultusministerkonferenz der kleinste gemeinsame Nenner "regiert". Dabei hat dieser Verabredungs-Zentralismus noch nicht einmal dazu geführt, dass wenigstens die Abiturnoten bundesweit gleichwertig wurden; so stand es jedenfalls noch bis vor kurzem im Hochschulrahmengesetz. Diese im Grunde niederschmetternde Formulierung ist nur deshalb nicht mehr nachzulesen, weil das Hochschulrahmengesetz jüngst im Zuge der Föderalismusreform zur Gänze aufgehoben wurde. Am Sachverhalt selber hat sich dadurch nichts geändert.
Es ist derzeit nicht abzusehen, was die Föderalismusreform in ihren zwei Stufen und die "Schuldenbremse" auf Dauer erbringen werden. Immerhin ist den Ländern nun eine "Abweichungskompetenz" vom Bundesgesetzgeber eingeräumt worden. Das betrifft unter anderem das Jagdrecht (freilich mit Ausnahme des Rechts der Jagdscheine). Aber wenn unser Föderalismus nicht erstarren soll, müssen die Länder wirklich originäre Verantwortung für gewichtige Gesetzesprojekte erhalten, vor allem aber eine streng aneinander gekoppelte Verantwortung vor Einnahmen und Ausgaben. Vor allem muss endlich verstärkt die wahre Modernitätsdimension des Föderalismus zum Tragen kommen - nämlich ein Wettbewerb um die jeweils bestmöglichen Lösungen in den Ländern. Und zwar ein Wettbewerb, der nicht durch leistungshemmend ausgestaltete Finanzausgleichssysteme erstickt wird. Was soll ein horizontaler Finanzausgleich, der zum einen nur dazu führt, dass erfolgreich "wirtschaftende" den allergrößten Teil des Erfolgs in den Ausgleich abliefern müssen, während zum anderen Länder, die sich abstrampeln, aus der "Nehmerposition" herauszukommen, zunächst nur fast brutto für netto eine Kürzung ihrer Ausgleichsansprüche erfahren? Solidarität ja, aber eben auch Wettbewerb!
Ein Wettbewerb zudem, der eine Annäherung der Lebensverhältnisse nicht durch bürokratisierte Abreden von oben herbeiführt, sondern durch das überzeugende Beispiel einzelner, das die anderen nicht anders denn als Vorbild nehmen - oder gar überbieten - können; und das, nota bene, die Wahlbürger überzeugt. Das ist gemeint, wenn man sagt, dass der Föderalismus nicht nur rückwärtsgewandt Macht hemmt, sondern vor allem produktiv Zukunft erschließen kann.
Der Autor ist politischer Korrespondent
der Wochenzeitung "Die Zeit" und war zwischen 1992 und 1997
ihr Chefredakteur.