Sonntag
22. Mai 2005 |
Die CDU geht aus der Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen erstmals nach 39 Jahren als stärkste
politische Kraft hervor. Nach der um 18.00 Uhr
veröffentlichten ersten Prognose des ZDF (Hochrechnung der
ARD) erringt die CDU 45 % (ARD: 44,8 %) der
Wählerstimmen. Die SPD rutscht auf 37,5 % (ARD: 37,6 %) ab.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erreichen bei leichten Verlusten 6
% (ARD: 6 %). Für die FDP werden 6,5 % (ARD: 6,1 %) angegeben.
Mit dem bevorstehenden Regierungswechsel in Düsseldorf bauen
CDU/CSU ihre Dominanz im Bundesrat zwar auf 43 von insgesamt 69
Stimmen aus, haben aber dennoch weiterhin keine so genannte
Blockade-Mehrheit, wofür 46 Stimmen erforderlich wären.
– Gegen 18.28 Uhr kündigt der SPD-Parteivorsitzende und
Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag Franz
Müntefering vorgezogene Bundestagswahlen für den
Herbst an. Müntefering sagt vor laufenden
Fernsehkameras, Bundeskanzler Gerhard Schröder und er
hätten „beschlossen“, im Herbst Neuwahlen auf
Bundesebene zu veranlassen. Müntefering sagt
wörtlich:
Wir suchen die Entscheidung. Es ist Zeit, dass in
Deutschland die Verhältnisse geklärt werden. […]
Die Menschen sollen das strukturelle Patt zwischen Bundestag und
Bundesrat beantworten. Sie sollen sagen, von wem sie regiert werden
wollen in diesem Land.
Müntefering teilt mit, dass am Dienstag der
SPD-Parteivorstand mit den Landesvorsitzenden zusammenkommen werde,
um über die Neuwahl offiziell zu beraten. – Ab 19.38 Uhr
melden Nachrichtenagenturen, dass der Bundeskanzler es
versäumt habe, Bundespräsident Horst Köhler
vorab über die Pläne für ein vorzeitiges Ende der
Legislaturperiode zu informieren. Ein Sprecher des
Bundespräsidialamts sagte auf dpa-Anfrage:
Köhler wird sich mit der Frage befassen, wenn sie
an ihn herangetragen wird.
Um 20.00 Uhr gibt Bundeskanzler Schröder
gegenüber der Presse im Bundeskanzleramt folgende
Erklärung ab:
Deutschland befindet sich in einem tief greifenden
Veränderungsprozess. Es geht darum, unser Land unter den
besonderen Bedingungen der Überwindung der deutschen Teilung
auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten. Mit der
Agenda 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt. Wir
haben notwendige Schritte unternommen, die sozialen
Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken.
Dies sind unabdingbare Voraussetzungen für mehr Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland. Erste Erfolge auf diesem Weg
sind unübersehbar. Bis sich aber die Reformen auf die
konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen in unserem Land
positiv auswirken, braucht es Zeit. Vor allem aber braucht es die
Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für
eine solche Politik. Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine
Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für
die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt. Für die aus
meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich
eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen
gerade jetzt für erforderlich. Deshalb betrachte ich es als
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und
Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr
Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes
Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also
realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum
Deutschen Bundestag herbeizuführen.
|
Montag
23. Mai 2005 |
Regierungssprecher Béla
Anda erklärt am Vormittag, die Neuwahl zum Deutschen
Bundestag soll über eine gescheiterte Vertrauensfrage und eine
darauf folgende Auflösung des Parlaments eingeleitet werden.
– Das SPD-Präsidium habe sich nach Mitteilung des
SPD-Parteivorsitzenden Müntefering einstimmig hinter
den Vorschlag Schröders gestellt, eine vorgezogene
Wahl des Bundestages im Herbst herbeiführen zu wollen. –
Bundeskanzler Schröder unterrichtet in einem ca.
20-minütigen Gespräch am Nachmittag Bundespräsident
Köhler über die Absicht, im Herbst 2005
Bundestagswahlen herbeizuführen. An dem Gespräch nahmen
neben Köhler und Schröder zwei
hochrangige Vertreter des Präsidialamtes sowie Kanzleramtchef
Frank Walter Steinmeier (SPD) teil. – Bundeskanzler
Schröder unterrichtet die
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Angela Merkel, den
stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion und
Vorsitzenden der Landesgruppe der CSU Michael Glos sowie
den Vorsitzenden der FDP-Fraktion Wolfgang Gerhardt am
Abend, dass die Parteien für einen Neuwahltermin ausreichend
Vorbereitung benötigen und in allen Bundesländern die
Sommerferien beendet sein müssten. Aufgrund
verfassungsrechtlicher Fristen soll die Vertrauensfrage am 1. Juli
gestellt werden. Die Entscheidung des Bundeskanzlers wird von den
Gesprächsteilnehmern „mit Respekt zur Kenntnis
genommen“. |
Dienstag
24. Mai 2005 |
Nach Mitteilung des
SPD-Parteivorsitzenden Müntefering stimmten rund 60
Teilnehmer der SPD-Parteivorstandssitzung für die
Herbeiführung von Bundestagswahlen im Herbst, zwei stimmten
dagegen, bei einer Enthaltung. Die Gegenstimmen kommen – wie
einige Tage später bekannt wird – von den
SPD-Bundestagsabgeordneten Ulla Burchardt und
Christoph Zöpel. |
Mittwoch
25. Mai 2005 |
Das Bundeskabinett thematisiert in
seiner Sitzung die geplante Neuwahl nicht. Regierungssprecher
Anda sieht den Grund darin, dass die Bundesminister in
ihren Parteigremien und Fraktionen über dieses Thema bereits
beraten hätten. – Die SPD-Bundestagsfraktion berät
um 11.00 Uhr in einer Sondersitzung über die vorgezogene
Neuwahl. – Wie aus Regierungskreisen verlautet, will
Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage vermutlich
nicht im Zusammenhang mit der für 2006 geplanten Senkung der
Unternehmenssteuer verknüpfen. |
Freitag
27. Mai 2005 |
Es wird weiter spekuliert, ob
möglicherweise die zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN umstrittene Unternehmenssteuerreform doch mit der
geplanten Vertrauensfrage verknüpft wird. Genährt werden
die Gerüchte, weil Regierungssprecher Anda
öffentlich Kritik am grünen Koalitionspartner übt.
– Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
befürchten, dass der Koalitionspartner SPD nach Indizien
für einen Vertrauensschwund sucht. Die Suche bei den
Grünen zu beginnen, sei jedoch „ein albernes
Schwarze-Peter-Spiel“, betont der Parlamentarische
Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Volker Beck. – In der SPD-Fraktion wächst
Presseberichten zufolge der Zweifel, ob es richtig sei, über
eine verlorene Vertrauensabstimmung den Weg zu Neuwahlen
freizumachen. Vor allem die 60 Abgeordneten der
nordrhein-westfälischen Landesgruppe sehen dem Vernehmen nach
nicht ein, warum sie dem Kanzler das Vertrauen entziehen
sollten. |
Samstag
28. Mai 2005 |
Der Abgeordnete Werner
Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kündigt erstmals
in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung“ eine Verfassungsklage an, sollte
Bundeskanzler Schröder in einer Sachfrage
künstlich das Misstrauen herbeiführen. |
Sonntag
29. Mai 2005 |
Bundespräsident
Köhler erklärt in einem Interview der
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ in Essen
(Montagausgabe), die Ankündigung von Neuwahlen durch den
SPD-Parteivorsitzenden Müntefering habe auch ihn
überrascht. Er teilt wörtlich mit:
Dass der Bundespräsident in einer so wichtigen
Frage überrascht wird, ist schon bemerkenswert
. |
Montag
30. Mai 2005 |
Regierungssprecher Anda
informiert darüber, dass Bundeskanzler Schröder
aus Respekt vor dem Bundestag seine Entscheidung über die Art
und Weise, Neuwahlen herbeizuführen, erst am 1. Juli im
Bundestag bekannt geben wird. |
Dienstag
31. Mai 2005 |
Im Koalitionsausschuss von SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird vereinbart, dass
Bundesaußenminister Joschka Fischer (BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) frühzeitig in die Vorbereitung der
Vertrauensfrage am 1. Juli einbezogen werde. – Gegenüber
der SPD-Bundestagsfraktion erklärt Bundeskanzler
Schröder, er wolle am 29. Juni 2004 den Antrag zur
Vertrauensfrage in den Bundestag einbringen und über diesen am
1. Juli abstimmen lassen. Der Parlamentarische
Fraktionsgeschäftsführer Wilhelm Schmidt (SPD)
erklärt im Anschluss an die Fraktionssitzung, dass bis zum 29.
Juni klar wird, ob die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage
verbunden werden soll. |
Mittwoch
1. Juni 2005 |
Bundesinnenminister Otto
Schily (SPD) hält es für eine „denkbare
Variante, dass bei der für den 1. Juli geplanten
Vertrauensfrage Bundeskanzler Schröder auch über
das ganze Kabinett abstimmen lässt. Schily sagt der
„Bild“-Zeitung (Donnerstagausgabe): „Auf diese
Weise würde Klarheit geschaffen, dass die ganze Regierung
diesen mutigen Schritt des Kanzlers mitträgt“. Dies
wäre zugleich „eine klare Ansage an alle auch im
Parlament, die – aus welchen Gründen auch immer –
kein Interesse an Neuwahlen haben sollten“. –
Bundespräsident Köhler versichert, er werde eine
mögliche Auflösung des Bundestages „sorgfältig
und nach bestem Wissen und Gewissen“ prüfen.
Köhler betont in der Wochenzeitung „Die
Zeit“:
Meine Mitarbeiter haben mir schon gesagt, sie seien
beeindruckt, mit welch genauer Kenntnis der Verfassung und mit
welch großem Respekt vor der Aufgabe und der Person des
Bundespräsidenten zum Beispiel Willy Brandt vorgegangen
ist.
Köhler kündigt an, er werde sowohl mit
„Experten von außen“ als auch mit den Partei- und
Fraktionsvorsitzenden sprechen. – Der stellvertretende
Regierungssprecher Thomas Steg betont, dass das
Verhältnis zwischen Schröder und
Köhler von gegenseitigem Respekt und Achtung vor
Person und Amt geprägt sei. So habe es der Kanzler als seine
Pflicht angesehen, den Bundespräsidenten über die
Pläne für Neuwahlen zu unterrichten, bevor die
Öffentlichkeit darüber in Kenntnis gesetzt worden sei.
Schröders Versuch, den Bundespräsidenten zu
erreichen, sei jedoch zunächst erfolglos gewesen. Das habe
Köhler über eine dritte Person erfahren und sich
dann beim Kanzler gemeldet. |
Freitag
3. Juni 2005 |
Regierungssprecher Anda
erklärt, dass Bundeskanzler Schröder die
Einleitung von Neuwahlen durch einen Rücktritt
ausschließt. |
Samstag
4. Juni 2005 |
Presseagenturen melden,
Bundeskanzler Schröder habe nach Darstellung des
Wochenmagazins „Der Spiegel“ (Ausgabe vom 6.6.2005) im
vertraulichen Gespräch mit Bundespräsident
Köhler fehlenden Rückhalt in der eigenen
Fraktion als Grund für die angestrebten Neuwahlen genannt.
Schröder habe am 23. Mai, einen Tag nach der
Wahlniederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen und der
Ankündigung zu Neuwahlen, im Bundespräsidialamt von einem
„erhöhten Erpressungspotenzial in der Fraktion und in
der Koalition“ gesprochen. Schröder habe ferner
in dem Gespräch angekündigt, er plane, dass bei der
Vertrauensfrage im Parlament die Kabinettsmitglieder geschlossen
gegen ihn stimmen. Diejenigen in der Fraktion, die ihm misstrauten,
würden das nicht durch ihr Abstimmungsverhalten dokumentieren
wollen und könnten möglicherweise seine Absicht
durchkreuzen. Falls der Bundespräsident den Bundestag nicht
auflösen sollte, denke er jedoch nicht an Rücktritt. |
Dienstag
7. Juni 2005 |
Im Streit um die geplante
Vertrauensfrage kritisiert der stellvertretende Vorsitzende der
SPD-Fraktion Michael Müller die Informationspolitik
des Bundespräsidenten. Dem „Handelsblatt“
(Mittwochausgabe) sagt er:
„Wir müssen langsam die Auseinandersetzung
mit dem Bundespräsidenten suchen“.
Köhler „streut so gezielt Informationen,
dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit gefährdet
ist“ . Das „Handelsblatt“ berichtet, in der
SPD gäbe es Vermutungen, das Bundespräsidialamt lanciere
Informationen über vertrauliche Gespräche zwischen
Köhler und Schröder an die
Öffentlichkeit. |
Mittwoch
8. Juni 2005 |
In scharfer Form weist die
Bundesregierung Vorwürfe aus der SPD-Fraktion gegen
Bundespräsident Köhler zurück.
Regierungssprecher Anda spricht von „völlig
unerträglichen Angriffen“. Die Zusammenarbeit zwischen
Bundeskanzler Schröder und dem Staatsoberhaupt sei
gut und vertrauensvoll. Der Bundeskanzler teile nicht den Verdacht,
dass das Bundespräsidialamt für Indiskretionen über
die Neuwahl-Strategie Schröders verantwortlich sei.
– Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion
Ludwig Stiegler wirft dem Bundespräsidenten mangelnde
parteipolitische Zurückhaltung vor. Er kritisiert in einem
Interview mit Reuters TV: „Herr Köhler ist
leider parteipolitisch nicht so zurückhaltend wie alle seine
Vorgänger“. – Johannes Kahrs, Sprecher
der im Seeheimer Kreis organisierten SPD-Bundestagsabgeordneten,
sagt dem „Handelsblatt“ (Donnerstagausgabe):
Köhler ist ein Präsident, der seiner
Aufgabe nicht gewachsen ist und sein Amt mit Parteipolitik
verwechselt.
Das Agieren des Bundespräsidenten im Zusammenhang mit der
Vertrauensfrage nannte Kahrs eine
„Schmierenkomödie der billigsten Art – aber der
Mann ist eben so“. – Bundestagsvizepräsidentin
Susanne Kastner (SPD) ruft Köhler zur
politischen Neutralität im Wahlkampf auf. Der „Financial
Times Deutschland“ (Donnerstagausgabe) sagt Kastner,
Köhler habe in der Vergangenheit eine politische
Gesinnung gezeigt, die der Union näher stehe als den
politischen Werten der Regierungsparteien. Seit der Grundsatzrede
des Bundespräsidenten beim Arbeitgeberforum „Wirtschaft
und Gesellschaft“ in Berlin am 15. März 2005 zum Thema
„Die Ordnung der Freiheit“, in der das Wort soziale
Gerechtigkeit nicht einmal erwähnt worden sei, herrsche in der
SPD ohnehin Unmut gegen den Bundespräsidenten. – Der
Parlamentarische Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Beck sagt dem „Handelsblatt“
(Donnerstagausgabe), er habe „seit Anfang an den Eindruck,
dass Köhler sein Amt nicht mit der notwendigen
Überparteilichkeit führt“. – Der
SPD-Parteivorsitzende Müntefering appelliert
eindringlich an seine Partei, die Angriffe auf Bundespräsident
Köhler einzustellen. Die Attacken von einigen in
seiner Partei seien „nicht in Ordnung“, sagt
Müntefering am Mittwochabend im „heute
journal“ des ZDF. |
Donnerstag
9. Juni 2005 |
Der stellvertretende Vorsitzende
der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Bosbach (CDU) sagt der
„Berliner Zeitung“ (Donnerstagausgabe), bei der Kritik
der SPD an Bundespräsident Köhler handele es
sich um ein „klassisches Ablenkungsmanöver“ der
SPD; die „Angriffe auf den Bundespräsidenten sind
völlig absurd“. – In scharfer Form ruft
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) seine Partei dazu
auf, Angriffe auf Bundespräsident Köhler zu
unterlassen. Er halte das Vorgehen von Teilen der SPD für
„sehr übel“. „Wir müssen aufpassen,
dass die Institutionen unseres Staates nicht beschädigt
werden“. Zudem seien die Attacken in keiner Weise
gerechtfertigt. Er schätze Köhler als
„integre Persönlichkeit“. – Bundeskanzler
Schröder erklärt am Nachmittag u. a.:
[…] Ich habe volles Vertrauen in die
Überparteilichkeit des Herrn Bundespräsidenten. Das gilt
auch für die Wahrung der Vertraulichkeit unserer
Gespräche. Deshalb erwarte ich von führenden Mitgliedern
meiner Partei, die andere Ansichten öffentlich
geäußert haben, dies unverzüglich einzustellen. Ich
muss zur Kenntnis nehmen, dass es in einer politischen
Ausnahmesituation zu unangemessenen Reaktionen und zu ausufernden
Spekulationen kommt. Das darf aber nicht dazu führen, dass die
Verfassungsorgane beschädigt und die Würde der in ihnen
handelnden Personen verletzt wird. […]
|
Samstag
11. Juni 2005 |
Bundespräsident
Köhler sagt dem Nachrichtenmagazin „Der
Spiegel“, die Menschen müssten darauf vertrauen
können, dass mit der Verfassung sachgemäß
umgegangen werde: „Alle Verfassungsorgane müssen an
ihr Tun auch den Maßstab der Nachvollziehbarkeit
gegenüber dem Bürger anlegen.“ Ferner
kritisiert Köhler: „Ich glaube, dass die
jahrzehntelange Politik des Übertünchens gescheitert
ist.“ Zur Modernisierung des Landes gehöre auch
Führung. Damit Reformen wirkten, müssten diese
„konsistent und konsequent umgesetzt
werden“ . |
Mittwoch
15. Juni 2005 |
Das Bundesverfassungsgericht
erklärte in seiner Eilentscheidung, die von der
rot-grünen Mehrheit im 2. Untersuchungsausschuss des 15.
Deutschen Bundestages (sog. Visa-Untersuchungsausschuss)
beschlossene Einstellung der Beweisaufnahme sei verfassungswidrig.
Der Ausschuss müsse seine Arbeit bis zu einer möglichen
Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten
fortsetzen. |
Donnerstag
16. Juni 2005 |
Der Staatsminister im Kanzleramt
Rolf Schwanitz informiert den Ältestenrat des
Bundestages, dass der Bundeskanzler am 1. Juli die Vertrauensfrage
stellen wird. Der Kanzler werde darüber
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am 27.
Juni in einem Schreiben informieren. Schröder wolle
die Vertrauensfrage, wie angekündigt, ohne Verknüpfung
mit einer inhaltlichen Frage stellen. |
Dienstag
21. Juni 2005 |
Bundespräsident
Köhler berät mit den Vorsitzenden der
Bundestagsfraktionen und den jeweiligen Parteivorsitzenden die
angestrebte Vertrauensfrage und die damit beabsichtigte
Herbeiführung von Neuwahlen des Bundestages. |
Mittwoch
22. Juni 2005 |
Der stellvertretende
Regierungssprecher Steg teilt mit, dass Bundeskanzler
Schröder nun doch früher als geplant seine
Gründe für die Vertrauensfrage mit dem Ziel einer
Bundestagsneuwahl bekannt geben werde. Der Kanzler werde die
Minister bereits am Mittwoch, den 29. Juni – zwei Tage vor
der Vertrauensabstimmung am 1. Juli – darüber
informieren. |
Donnerstag
23. Juni 2005 |
Die Parteien „DIE
REPUBLIKANER“, „Mensch Umwelt Tierschutz“,
„Ökologisch-Demokratische Partei“ (ödp) und
„Deutsche Zentrumspartei“ erwägen nach einem
Bericht der „Süddeutschen Zeitung“
(Donnerstagausgabe) eine Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht. |
Montag
27. Juni 2005 |
Der stellvertretende Regierungssprecher Steg teilt mit,
dass Bundeskanzler Schröder seinen Antrag auf
Vertrauensfrage bei Bundestagspräsident Thierse
eingereicht hat. Das Schreiben lautet: „Sehr geehrter Herr
Bundestagspräsident, gemäß Artikel 68 des
Grundgesetzes stelle ich den Antrag mir das Vertrauen
auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Freitag, dem
1. Juli 2005, hierzu eine Erklärung abzugeben.“
(Drucksache
15/5825).
Der Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reinhard Bütikofer erklärt nach Beratungen des
Parteirats: „Wir wollen, dass der Weg zu Neuwahlen
beschritten werden kann und werden im Rahmen der Verfassung unseren
Teil dazu beitragen“. – Der SPD-Fraktionsvorsitzende
Müntefering „lädt“ die
SPD-Abgeordneten dazu „ein“, sich bei der
Vertrauensfrage des Bundeskanzlers der Stimme enthalten. Der 45
Mitglieder zählende Fraktionsvorstand der SPD billigt die
Empfehlung bei 4 Gegenstimmen.
|
Dienstag
28. Juni 2005 |
Tageszeitungen berichten, dass das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Neuwahlen auf der Basis einer
absichtlich herbeigeführten Abstimmungsniederlage bei der
Vertrauensfrage ablehnen könnte, denn es stünde ein Teil
der Karlsruher Richter diesem Vorhaben äußerst kritisch
gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht weist am Mittag die
Behauptung zurück, nach dem ein Teil der Karlsruher Richter
eine bereits vorgefasste Meinung zur Berechtigung der
Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder habe. Die
Sprecherin Dietlind Weinland sagt: „Das
Verfassungsgericht nimmt zu eventuell kommenden Verfahren keine
Stellung.“ Bislang sind in Karlsruhe keinerlei Klagen
oder Beschwerden gegen das von Schröder
angekündigte Verfahren eingegangen. – Mit dem
Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages
Klaus Kirschner und dem menschenrechtspolitischen Sprecher
der SPD-Fraktion Rudolf Bindig sowie dem Vorsitzenden der
niedersächsischen SPD-Landesgruppe im Bundestag Holger
Ortel kündigen die ersten Mitglieder der SPD-Fraktion an,
sich gegen den Vorschlag der Fraktionsspitze zu stellen und
stattdessen Bundeskanzler Schröder das Vertrauen
auszusprechen. Im linken Parteiflügel deutet sich dagegen eine
Abkehr von der bisherigen Position an, in jedem Fall für
Schröder zu stimmen. –
Müntefering bittet die SPD-Abgeordneten in einer
Fraktionssitzung darum, sich bei der Vertrauensabstimmung am
Freitag der Stimme zu enthalten. Am Rande der Fraktionssitzung
teilt Müntefering mit, dass es darüber zuvor
keine Abstimmung in der Fraktion geben werde. Ferner sagt
Müntefering: „Man kann Gerhard Schröder
auch dadurch das Vertrauen aussprechen, in dem man sich bei der
Vertrauensfrage enthält.“ |
Mittwoch
29. Juni 2005 |
Bundeskanzler
Schröder tritt am Morgen zu einem
eineinhalbstündigen Gespräch mit den Ministern seines
Kabinetts zusammen. Regierungssprecher Anda dementiert
Berichte, nach denen Bundeskanzler Schröder die
Vertrauensfrage mit „mangelnder
Handlungsfähigkeit“ seiner Regierung begründen
will. Er weist darauf hin, dass für den Kanzler entscheidend
sei, „ob er für seine Politik vom stetigen Vertrauen
der Mehrheit des Parlaments ausgehen kann“ . Der Kanzler
habe die Minister über „Motiv und Struktur“ seiner
im Bundestag geplanten Erklärung zur Vertrauensfrage
unterrichtet. Ferner teilt er mit, dass Bundeskanzler
Schröder seine Beweggründe für die
Vertrauensfrage erst am Freitag vor dem Parlament öffentlich
machen werde. Bei seiner Vertrauensfrage werde sich der
Bundeskanzler selbst der Stimme enthalten. Nach der Abstimmung
werde Schröder Bundespräsident
Köhler persönlich unterrichten. Die
Ausführungen vor den Kabinettsmitgliedern seien
„vertraulich“ erfolgt. – Doris
Schröder-Köpf, die Frau des Bundeskanzlers, erwirkt
beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen
das Magazin „Stern“. Darin wird den Herausgebern der
Zeitschrift untersagt, mehrere von Schröder-Köpf
beanstandete Behauptungen aus einem Artikel vom 23. Juni 2005
erneut zu verbreiten. In dem Artikel „Der Doris-Faktor“
hatte die Autorin Ulrike Posche u. a. verbreitet, dass es
möglicherweise Schröder-Köpf gewesen sein
könnte, die ihren Mann auf die Idee mit der Vertrauensfrage
gebracht haben könnte. „Stern“-Sprecher Frank
Plümer kündigt Widerspruch gegen die
Gerichtsentscheidung an. – In der Presse verlautet, dass die
rot-grüne Regierungskoalition bis Donnerstagabend (30. Juni)
im Bundestag bei Abstimmungen über kontroverse Gesetze noch
40-mal ihre Regierungsmehrheit unter Beweis stellen werde. Dabei
gehe es nach Aussage des Parlamentarischen
Geschäftsführers der SPD-Fraktion Wilhelm
Schmidt um Vorhaben wie die Ausweitung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, die Offenlegung von
Vorstandsbezügen in Unternehmen und das Abgeordnetengesetz.
Insgesamt stünden bis zur Entscheidung über die
Vertrauensfrage am Freitag noch 72 Abstimmungen an. |
Donnerstag
30. Juni 2005 |
Nach Meinung der innenpolitischen
Sprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Silke
Stokar wüchse in der Regierungskoalition die Zahl der
Abgeordneten, die wegen der Vertrauensfrage von Bundeskanzler
Schröder eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht
unterstützen. – Die beiden fraktionslosen Abgeordneten
von der PDS, Petra Pau und Gesine Lötzsch,
kündigen an, mit „Nein“ stimmen zu wollen. –
Bundeskanzler Schröder informiert den
Koalitionsausschuss über sein Vorgehen. Der Vorsitzende der
SPD-Fraktion Müntefering betont anschließend,
er rechne nicht damit, dass Bundespräsident
Köhler gegen die Vertrauensfrage Einspruch einlegen
werde; einen „Plan B“ habe man nicht in der Tasche. Der
Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bütikofer sagt, dass seine Partei ihren Teil dazu
beitragen werde, dass es zu einer vorgezogenen Bundestagswahl
komme. – Am Tag vor der Vertrauensfrage werden von der
rot-grünen Regierungskoalition einmütig noch zahlreiche
Beschlussfassungen auf den parlamentarischen Weg gebracht, darunter
auch 17 Gesetze. |
Freitag
1. Juli 2005 |
Bundeskanzler Schröder informiert morgens die
SPD-Fraktion über die genaue Begründung für seinen
Antrag auf Vertrauen. Teilnehmer berichten, der Kanzler habe eine
„sehr emotionale Rede“ gehalten. Eine direkte
Empfehlung zum Abstimmungsverhalten habe er aber nicht abgegeben.
Die SPD-Fraktionssitzung mit Schröder dauerte rund
eine Stunde. – Anschließend unterrichtet
Schröder auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN über die weitere Vorgehensweise. Am Ende einer
siebenminütigen Rede vor der Fraktion verbittet sich
Schröder nach Angaben von Teilnehmern
Solidaritätskundgebungen und Beifallstürme von jenen
Grünen-Politikern, die ihn nach der verlorenen Landtagswahl in
Nordrhein-Westfalen kritisiert hätten. – Bundeskanzler
Schröder begründet seinen Antrag vor dem
Deutschen Bundestag u. a. damit:
[…] Mein Antrag hat ein einziges, ganz
unmissverständliches Ziel: Ich möchte dem Herrn
Bundespräsidenten die Auflösung des 15. Deutschen
Bundestages und die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen
können. Der für meine Partei und für mich selber
bittere Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war das
letzte Glied in einer Kette zum Teil empfindlicher und
schmerzlicher Wahlniederlagen. In der Folge dessen wurde deutlich,
dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne
eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk,
nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen. […]
alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich mit
Nachdruck für die Auflösung des Bundestages
ausgesprochen. Die Wählerinnen und Wähler
unterstützen mit überwältigender Mehrheit meinen
Wunsch nach Neuwahlen. […] Unsere Staatspraxis, die auch
durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß
bestätigt wurde, ist eindeutig. Der mit der Vertrauensfrage
verbundenen Konsequenz von Neuwahlen stehen keine zwingenden
verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. […] Die SPD hat
seit dem Beschluss der Agenda 2010 bei allen Landtagswahlen und der
Europawahl Stimmen verloren, in vielen Fällen sogar die
Regierungsbeteiligung in den Ländern. […] Dass wir
diesen hohen Preis […] zu zahlen hatten, hat innerhalb
meiner Partei und meiner Fraktion zu heftigen Debatten um den
künftigen Kurs der SPD geführt. […] Es ging und es
geht um die Frage, ob die Reformen der Agenda 2010 überhaupt
notwendig sind oder ob sie nicht gar zurückgenommen werden
sollten. […] Ersichtlich geht es der Bundesratsmehrheit in
diesen wie in anderen Fällen […] nicht mehr um
inhaltliche Kompromisse oder staatspolitische Verantwortung,
sondern um machtversessene Parteipolitik […]. Nur eine durch
die Wählerinnen und Wähler klar und neuerlich
legitimierte Regierungspolitik wird bei der Mehrheit des Bundesrats
zu einem Überdenken der Haltung und – wenn auch nicht
kurzfristig – zu einer Änderung der Mehrheit
führen.
Der Bundestag zählt bei Abstimmung über die
Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder insgesamt
600 Abgeordnete – anstatt wie gesetzlich vorgesehen 601
–, da sich die Benennung eines Nachrückers für den
ausgeschiedenen Abgeordneten Walter Hoffmann (SPD)
verzögert hat. Die notwendige Stimmenzahl für die so
genannte Kanzlermehrheit beträgt dennoch weiterhin 301. Die
rot-grüne Koalition verfügte bei der Abstimmung über
303 Stimmen – statt wie sonst über 304. An der
Abstimmung nehmen fünf Abgeordnete nicht teil – vier
davon erklärtermaßen beabsichtigt: Von der SPD waren
dies Herta Däubler-Gmelin, Uwe Küster
und Sigrid Skarpelis-Sperk, von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Werner Schulz. – Über den Antrag
des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes (Bundestagsdrucksache
15/5825) wird in namentlicher Abstimmung
folgendermaßen abgestimmt:
|
|
Abgegebene
Stimmen |
Ja |
Nein |
Enthaltung |
Gesamt |
595 |
151 |
296 |
148 |
SPD |
245 |
105 |
– |
140 |
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN |
54 |
46 |
– |
8 |
CDU/CSU |
246 |
– |
246 |
– |
FDP |
47 |
– |
47 |
– |
Fraktionslos |
3 |
– |
3 |
– |
Damit erreicht der Antrag des
Bundeskanzlers gemäß Art.
68 Abs. 1 GG nicht die erforderliche Zustimmung der
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Der Bundeskanzler verfehlt
die notwendige Kanzlermehrheit. – Bundeskanzler
Schröder bittet um 13.20 Uhr Bundespräsident
Köhler um die Auflösung des Bundestages. –
Das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht die
Begründung, warum es am 15. Juni die Fortsetzung der
Zeugenbefragung im sog. Visa-Untersuchungsausschuss angeordnet hat.
Darin heißt es: „Zwingende oder gewichtige
Gründe“, übergangslos die Beweisaufnahme
abzubrechen, seien nicht ersichtlich. Die Richter betonen, dass
„der unerwartete Verlust von Beweismitteln“, die aus
Sicht der Fraktionen von CDU/CSU und FDP von Bedeutung seien, dem
Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts
„zuwiderlaufen“ würde. Die beiden
Oppositionsfraktionen hätten „als qualifizierte
Minderheit“ ein schutzwürdiges Interesse, dass die
Arbeit des Ausschusses so lange fortgeführt werde, bis der
Untersuchungsauftrag abgeschlossen sei, zumindest aber solange, bis
sich „Anzeichen dafür konkretisieren“, dass der
Untersuchungsauftrag nicht bis zu einem regulären oder
vorzeitigen Ende der Wahlperiode erledigt werden könne. |
Montag
18. Juli 2005 |
Regierungssprecher Anda
erklärt, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass
Bundespräsident Köhler am Donnerstag oder
Freitag seine Entscheidung über Neuwahlen bekannt geben wird.
Das ergebe sich aus der Drei-Wochen-Frist. Köhler
habe bereits angekündigt, die Frist von 21 Tagen nach der
Vertrauensabstimmung möglicherweise voll auszunutzen. |
Donnerstag
21. Juli 2005 |
Gegen 15.20 Uhr wird bekannt, dass
Bundespräsident Köhler am Abend in einer
Fernsehansprache um 20.15 Uhr seine Entscheidung für oder
gegen vorgezogene Neuwahlen bekannt gibt. – Um 20.15 Uhr
führt Köhler in der Fernsehansprache, die von
vielen Sendern live übertragen wird, u. a. aus:
[…] ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag
aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt.
Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die
unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind
arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der
Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die
bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu
wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen
uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten
Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit
Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die
Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine
verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag
angewiesen. Der Bundeskanzler hat am 1. Juli vor dem Bundestag
deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen
Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche
Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem
Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht.
Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält
der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme
nicht für dauerhaft tragfähig. […] Das Grundgesetz
ermöglicht es aber dem Bundeskanzler, eine parlamentarische
Vertrauensfrage mit dem Ziel zu stellen, vorgezogene Wahlen
herbeizuführen. […] Eine Niederlage des Bundeskanzlers
bei dieser Abstimmung allein reicht jedoch nicht aus, um den
Bundestag aufzulösen. Die politischen
Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine
Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen,
dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit getragene Politik
nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt es das
Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine
Lage. Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend
geprüft. […] Doch ich sehe keine andere
Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers
eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit
die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die
Auflösung des Bundestages gegeben sind.
[…]
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Zur Entscheidung des
Bundespräsidenten erklärt Bundeskanzler
Schröder u. a.: „[…] der Herr
Bundespräsident hat die Weichen für Neuwahlen zum
Deutschen Bundestag am 18. September gestellt. Ich
begrüße seine souveräne Entscheidung sehr. Mit der
Vertrauensfrage am 1. Juli ging es mir darum, Neuwahlen
möglich zu machen. Dafür hatte ich seit der
Ankündigung eine überwältigende Unterstützung
in unserer Gesellschaft. Nicht nur alle Parteien, sondern –
viel wichtiger – die große Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wünschen
Neuwahlen. Im Herbst werden also die Bürgerinnen und
Bürger das Wort haben. Sie können dann entscheiden,
welchen Weg unser Land gehen soll. […]“ |
Freitag
22. Juli 2005 |
Beim Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe gehen die ersten Klagen gegen die Auflösung des
Bundestages durch den Bundespräsidenten ein. |
Montag
8. August 2005 |
Das Bundesverfassungsgericht
hält den Beitritt dreier kleinerer politischer Parteien
(Allianz für Gesundheit, Frieden und Soziale Gerechtigkeit;
Familien-Partei Deutschlands; Ökologisch-Demokratische Partei)
zum Organstreitverfahren der Bundestagsabgeordneten
Hoffmann und Schulz für unzulässig. Der
Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellt fest, dass es an
der erforderlichen Übereinstimmung der rechtlichen Interessen
der klagenden Abgeordneten einerseits und der beitrittswilligen
politischen Parteien andererseits fehlt. Das Interesse der Parteien
an einer längeren Vorbereitungszeit für die nächste
Bundestagswahl ist anders gelagert als das verfassungsrechtliche
Interesse der klagenden Abgeordneten daran, dass ihnen der
Abgeordnetenstatus nicht in verfassungswidriger Weise vorzeitig
entzogen wird (Aktenzeichen: 2 BvE 4/05 und 2
BvE
7/05). |
Donnerstag
25. August 2005 |
Der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts erklärt, er habe die Organklage der
Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz als unbegründet
zurückgewiesen. Die angegriffenen Entscheidungen des
Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem
Zweck des Art. 68 Grundgesetz
widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur
Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen
Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der
Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den
bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag
künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene
Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung
eindeutig vorzuziehen. Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7:1
Stimmen ergangen, im Hinblick auf den Maßstab der
Entscheidung mit 5:3 Stimmen. Die Richterin Gertrude
Lübbe-Wolff, die die Entscheidung im Ergebnis
mitträgt, sowie der Richter Hans-Joachim Jentsch, der
sie nicht mitträgt, haben der Entscheidung jeweils eine
abweichende Meinung angefügt (Aktenzeichen: 2 BvE 4/05 und 2
BvE
7/05). |