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Sie sind beide in der Türkei geboren – haben aber ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Während der FDP-Abgeordnete Serkan Tören kaum Migrationserfahrungen gemacht hat, weil er als Baby nach Deutschland kam und in einer Gastarbeiterfamilie aufwuchs, hat der Grünen-Abgeordnete Memet Kilic seine Migration sehr bewusst erlebt.
Lebhaft erzählt er von seiner Kindheit, in der er "sehr glücklich und sehr geborgen" in einer Großfamilie lebte mit der Großmutter, der Mutter, Geschwistern und seinem Vater, der als Grundschullehrer arbeitete.
Die innenpolitischen Krisen der Türkei blieben ihm dort nicht verborgen: "Es gab auch schwierige Zeiten. Ich habe zwei Militärputsche erlebt. Jeder Fortschritt wurde als Gefahr für das Land erkannt."
Beim ersten Militärputsch wurde sein 24-jähriger Bruder, der Medizin studierte, verhaftet und kam für sechs Monate in ein Militärgefängnis. Als die Familie ihn einmal besuchen konnte, durfte nur Kilic mit ihm sprechen, weil er als Vierjähriger wohl am ungefährlichsten war. "Dieses Bild habe ich noch vor Augen, eine kleine Zelle mit vielen Menschen."
1980, beim zweiten Militärputsch, war Kilic dreizehn Jahre alt und erlebte diese turbulenten Zeiten bewusster mit: "Das hat mich wohl geprägt. Recht und Unrecht." Folgerichtig ging er also nach dem Gymnasium in Ankara auf die juristische Fakultät. Als Teil der Studentenbewegung wurde er bei einer großen Demonstration 1986 verhaftet und kam nach einem Monat in Untersuchungshaft vor das Staatssicherheitsgericht wegen unerlaubten Demonstrierens.
Nach einjährigem Verfahren kam der Freispruch. 1990 ging er als Student nach Deutschland, um seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Europarechts zu vertiefen: "Ich bin bewusst mit dem Bus gefahren, weil es günstiger war und ich auch etwas sehen wollte von Europa." Es war das erste Mal, dass er überhaupt im Ausland war. Sein Ziel war Heidelberg, nach Meinung vieler das Idealbild einer deutschen Stadt.
Auf dem Weg dorthin erlebte er etwas typisch Deutsches: "Auf dem Zugplan stand, dass der Zug um 14.02 Uhr abfährt. Das habe ich nicht geglaubt. Er fuhr tatsächlich zwei Minuten nach zwei ab und ich habe gedacht: Wow, was für eine Präzision!" Selbstironisch fügt er hinzu: "Jetzt bin ich der erste, der lauthals protestiert, wenn ein Zug fünf Minuten zu spät losfährt. So schnell kann man sich daran gewöhnen."
Zehn Monate besuchte er einen Sprachkurs und nahm anschließend an einem Magisterprogramm für internationale Juristen teil. Er kam in einer turbulenten Zeit nach Deutschland - kurz nach dem Mauerfall 1989: "Es wurden nationale Töne laut: Das Boot ist voll. Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Ich kannte Deutschland von Nietzsche und Goethe. Ich habe mit solchen Menschen nicht gerechnet."
Doch auf den ersten Schock folgte ein Entschluss: "Im Interesse der Gesamtgesellschaft muss ich mich engagieren. Ich kann mich nicht hinter meinem Schreibtisch verstecken, nur weil ich als Gaststudent gut angesehen bin." Er engagierte sich in den Ausländerbeiräten und wurde 1994 in den Ausländerrat der Stadt Heidelberg gewählt.
1998 gründete er den Bundesausländerrat (jetzt: Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat) mit und ist seit 2000 dessen Vorsitzender: "Ich habe mich immer als Sprachrohr der Migranten verstanden und habe mich bemüht die Interessen der Menschen zu verteidigen, die keinen großen Rückhalt in der Gesellschaft haben."
So kam er 1998 zu den Grünen. 2003 erhielt er seine deutsche Staatsbürgerschaft: "Ich beantragte sie, weil ich mich mit dem Grundgesetz und seiner Werteordnung identifiziere, meiner Meinung nach das beste der Welt - auch wenn man immer noch etwas verbessern kann."
Bei dem Thema Integration legt er vor allem Wert auf die Bildungschancen für Menschen mit Migrationshintergrund: "Unser Gesundheitsminister, Philipp Rösler (FDP), ist zwar nicht ein typisches Beispiel, weil er natürlich kulturell völlig in Deutschland aufgewachsen ist und nur genetisch aus dem Ausland stammt. Aber wenn er diese Möglichkeit als Waisenkind nicht gehabt hätte, was für ein großes Potenzial wäre dann verloren gegangen."
Insofern unterstützt er auch die Idee von einem Integrationsministerium: "Wir haben mittlerweile semantisch anerkannt, dass wir ein Zuwanderungsland sind und Migration und Integration die Zukunft unserer Landes wesentlich bestimmen werden. Wir brauchen aber auch ein Ministerium dafür genauso wie für Landwirtschaft oder Verbraucherschutz. Nicht um dem nur einen Bedeutungstouch zu verleihen, sondern diesen Bereich wirklich zu bearbeiten. Wenn wir das gut hinkriegen, hat unser Land ein Riesenpotenzial, um weiter voranzukommen."
Doch er selbst interessiert sich als leidenschaftlicher Jurist vor allem für den Innenausschuss.