Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2011 > 27.02.2011
Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 28. Februar
2011)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen
Veröffentlichung –
Angesichts der eskalierenden Gewalt und bürgerkriegsähnlichen Zustände in Libyen hat Günter Gloser, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Vorsitzender der deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe die „Sprachlosigkeit der EU“ scharf kritisiert: „Ich hatte gehofft, dass nach dem Lissabon-Vertrag ein deutlich sichtbares Zeichen europäischer Handlungsfähigkeit gesetzt werden würde.“ Die Bürgerinnen und Bürger erwarteten bei diesen Umwälzungen, dass die EU mit einer Stimme spreche, sagte Gloser im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Er bedauere, „dass die EU bei diesem Thema in verschiedene Lager zerfällt.“
Angesichts der zu erwartenden Flüchtlingsströme und damit verbundenen großen humanitären Problemen verlangte Gloser ein Umdenken innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten: „Auf Seiten der EU ist jetzt ein Strategiewechsel bei der Flüchtlings- und Integrationspolitik notwendig.“ Er betonte, dass es nicht ausreiche, „nur den Revolutionsakt zu begrüßen und zu bejubeln, sondern das heißt eben auch Unterstützung für die dortige Bevölkerung.“ Dies müsse auch der deutschen Bevölkerung vermittelt werden.
An Israel hat der SPD-Außenpolitiker angesichts der Situation im benachbarten Ägypten eine konkrete Forderung: „Auch auf der anderen Seite erwarte ich in dieser jetzt sehr sensiblen Situation vertrauensbildende Maßnahmen. Israel trägt in dieser Zeit des Umbruchs Mitverantwortung. Ganz konkret gesprochen: Ich erwarte von Israel einen Siedlungsstopp. Die Zeit der doppelten Standards ist vorbei.“
Das Interview im Wortlaut:
Herr Gloser, man hat in den letzten Tagen manchmal den Eindruck,
dem libyschen Machthaber Gaddafi sei das eigene Volk egal. Ihr
Kommentar?
Wer auf die eigene Bevölkerung schießen lässt, wer
Söldner bestellt und Menschen töten lässt, den
kümmert das Wohlergehen seiner Bevölkerung nicht. Diese
Taten bezeugen die Brutalität des Staatschefs Gaddafi und der
libyschen Führung. Dem Generalsekretär der Arabischen
Liga ist völlig zuzustimmen, wenn er sagt, die Forderungen der
arabischen Völker nach Reform, Elitenwechsel und
Veränderung seien legitim. Libyen ist Mitglied der Vereinten
Nationen und hat als Unterzeichner der UN-Menschenrechtskonvention
deren Verpflichtungen auch gegenüber der eigenen
Bevölkerung einzuhalten.
Wie sind die Vorgänge
einzuordnen?
Wenn man die Situation in den
verschiedenen Ländern betrachtet, in denen jetzt Unruhen
herrschen, sieht man, dass die Rahmenbedingungen sehr
unterschiedlich sind. Was die gesellschaftliche Struktur,
beispielweise in Tunesien angeht, ist die Situation anders als in
Libyen. In Tunesien haben im Vergleich zu vielen anderen arabischen
Ländern die Menschen eine gute Ausbildung. Es gab und gibt
auch weiterhin eine Mittelschicht, die in anderen Ländern, in
dieser Form überhaupt nicht existiert. Insofern ist auch die
Art und Weise, wie sich jetzt der Umbruchprozess gestaltet, in
jedem Land ein andere.
Die EU tut sich schwer mit den Ereignissen in
Nordafrika...
Als die Revolution in Tunesien begonnen
hat und dann ihre Fortsetzung in Ägypten fand, habe ich mich
über die Sprachlosigkeit der EU gewundert. Ich hatte gehofft,
dass nach dem Lissabon-Vertrag ein deutlich sichtbares Zeichen
europäischer Handlungsfähigkeit gesetzt werden
würde. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten bei
diesen Umwälzungen, dass die EU mit einer Stimme spricht! Ich
habe bedauert, dass die EU bei diesem Thema in verschiedene Lager
zerfällt.
Glauben Sie, dass man Flüchtlinge – jetzt
speziell aus Libyen, aber auch aus den anderen Staaten Nordafrikas
und des Nahen Ostens, in denen der Umwälzungsprozess noch
nicht abgeschlossen ist – jetzt leichter in die EU lassen
sollte?
Vor allem müssen die Verantwortlichen in
diesen Ländern jetzt ihren Bürgerinnen und Bürgern
Perspektiven aufzeigen. Also: Wann finden freie Wahlen statt, wann
wird ein Parlament gebildet, wie kommt die wirtschaftliche
Entwicklung voran. Das geht jedoch nicht von heute auf morgen und
wird möglicherweise viele Menschen nicht zufrieden stellen.
Diese werden sich aufmachen wollen, doch bei jedem einzelnen
Flüchtling sollte geprüft werden, aus welchem Grund er
gekommen ist. Auf Seiten der EU ist jetzt ein Strategiewechsel bei
der Flüchtlings- und Integrationspolitik notwendig.
Glauben Sie an einen Domino-Effekt in Nordafrika, dass
jetzt ein Staat nach dem anderen im Nahen Osten demokratisch
wird?
Meines Erachtens ist das ein falscher Begriff.
Von Tunesien ausgehend hat eine Bewegung in vielen Ländern
stattgefunden. Auslöser waren die soziale Perspektivlosigkeit
vor allem vieler junger Menschen und die fehlende politische
Teilhabe. Das heißt keine freie Meinungsäußerung
oder Möglichkeit, sich frei politisch zu organisieren. Aber
natürlich sind die Verhältnisse in den Ländern
unterschiedlich. Daher will ich nicht von einem Domino-Effekt
sprechen.
Haben Sie Sorge, dass die Stimmung umschlagen
könnte, falls die Demokratiebewegungen ihre Ziele nicht
erreichen können?
Die schwierigste Zeit ist die
Zeit nach der Revolution: Tunesien und Ägypten unterscheiden
sich wie gesagt. In Ägypten versucht man über eine
vorübergehende Herrschaft des Militärs verschiedene
Initiativen zu ergreifen, damit hoffentlich freie, demokratische
Wahlen stattfinden können. Anders ist die Situation in
Tunesien. Dort herrscht großes Misstrauen, die Akteure
könnten das Rad der Revolution zurückdrehen. In
absehbarer Zeit müssen die Regierungen ihrer Bevölkerung
die nächsten Schritte aufzeigen. Sonst könnte es
passieren, dass die Menschen wieder unruhig werden, weil sie keiner
wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven sehen. Es bestünde
die Gefahr, dass sie möglicherweise anderen politischen
Parolen folgen, die vordergründig etwas versprechen, aber gar
nichts halten.
Was kann Europa und vor allem Deutschland
tun?
Wir müssen uns klar machen, dass wir eine
Verantwortung für diese Region haben, die zwei, drei
Flugstunden von uns entfernt ist. Es reicht nicht aus, nur den
Revolutionsakt zu begrüßen und zu bejubeln, sondern das
heißt eben auch Unterstützung für die dortige
Bevölkerung. Das muss auch unserer eigenen Bevölkerung
vermittelt werden.
Wie kann eine solche Unterstützung
aussehen?
Die EU könnte den Binnenmarkt auch
für Produkte, für Dienstleistungen aus diesen
Ländern öffnen, also Handelshemmnisse abbauen. Es kann
nicht sein, dass wir zwar unsere Produkte und Dienstleistungen
dorthin liefern, aber es umgekehrt erhebliche Einschränkungen
gibt. Zweitens muss man deutsche Unternehmen ermuntern, trotz
mancher Schwierigkeiten, die jetzt im Umbruch entstanden sind, zu
bleiben, zu investieren, damit zumindest diese Perspektive erhalten
bleibt. Es muss deutlich werden, dass wirtschaftliche und soziale
Entwicklung erfolgt und bei den Menschen ankommt.
Was meinen Sie damit?
Ich meine
beispielsweise den Tourismus. Es ist ganz wichtig, dass dieser
wieder entsprechend aufleben kann, weil er ein ganz wichtiges
Standbein für beide Länder ist. Man muss zusätzlich
überlegen, ob gut ausgebildeten Leuten temporär die
Arbeitsmigration nach Europa ermöglicht werden kann. Das
heißt nicht, dass wir die gut Ausgebildeten aus Tunesien oder
Ägypten abwerben wollen. Ich glaube aber nicht, dass der
dortige Arbeitsmarkt so schnell wieder in Schwung kommt, dass das
allein die Probleme lösen kann.
War es richtig, dass sich Europa mit mehreren Millionen
Euro jahrelang Ruhe erkauft hat?
Wir haben
versäumt, auf die Einhaltung gemeinsamer Vereinbarungen, etwa
denen des Barcelona-Prozesses, zu drängen, welche die
Staatsregierungen des Südens mit unterschrieben haben. Ich
muss aber gegenüber Kritikern auch sagen dass es hier bei uns
Situationen gegeben hat, wo wir als Politiker gemeinsam mit den
Verantwortlichen des Südens zusammenstehen mussten, zum Schutz
unserer eigenen Bevölkerung. Das war nach dem 11. September
2001 der Fall, oder nach dem Anschlag in Djerba 2002. Wir
dürfen auch nicht vergessen, dass die vermittelnde,
zielführende Rolle Ägyptens im Konflikt des Nahen und
Mittleren Ostens eine Rolle gespielt hat. Nur haben wir das in den
Vordergrund gestellt, alles andere zu wenig beachtet.
Deutschland hat ja eine spezielle Verantwortung für
Israel. Wie gefährlich können diese neuen
Verhältnisse für Israel werden?
Es gibt
Zeichen aus Ägypten, die eingegangenen Verträge mit
Israel einzuhalten. Aber auch auf der anderen Seite erwarte ich in
dieser jetzt sehr sensiblen Situation vertrauensbildende
Maßnahmen. Israel trägt in dieser Zeit des Umbruchs
Mitverantwortung. Ganz konkret gesprochen: Ich erwarte von Israel
einen Siedlungsstopp. Die Zeit der doppelten Standards ist
vorbei.