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5.000 Metallkästen mit den Namen der Abgeordneten, die von 1919 bis 1999 demokratisch ins Parlament gewählt wurden © DBT/Studio Kohlmeier
Der französische Künstler Christian Boltanski hat die Frage nach der Wahrnehmung von Vergangenheit zum Hauptthema seines künstlerischen Schaffens gewählt. Für das Reichstagsgebäude hat er daher in ortsbezogener Fortführung dieses Gedankens im Untergeschoss des Osteingangs das "Archiv der Deutschen Abgeordneten" entworfen. Kästen aus Metall sind mit den Namen derjenigen Abgeordneten beschriftet, die von 1919 bis 1999, dem Jahr der Einweihung des Reichstagsgebäudes, demokratisch in das deutsche Parlament gewählt wurden. Die Kästen sind in zwei länglichen Blöcken bis zur Decke so übereinandergestapelt, dass zwischen ihnen ein schmaler Gang entsteht, nur wenig durch Kohlefadenlampen erhellt. In diesem "Kellerarchiv" entwickelt sich ein Gefühl von stiller Abgeschiedenheit, während die Rückseiten der angerosteten Metallkästen nach außen hin pittoreske Muster bilden.
Unterhalb des Osteingangs ist auf diese Weise eine festgefügte Mauer entstanden, die wie ein tragendes Fundament des Parlaments wirkt und die demokratische Tradition Deutschlands eindrucksvoll versinnbildlicht. Der Gedanke der Gleichheit aller angesichts der Endlichkeit der menschlichen Existenz kommt durch die serielle Fügung der Kästen bildkräftig zum Ausdruck: Ob Parlamentarier nur zwei Jahre als "Hinterbänkler" im Parlament gesessen oder die Geschicke Deutschlands maßgeblich geprägt haben, ihnen allen wird der gleiche Erinnerungsraum zuteil. Von diesem Prinzip weicht Boltanski nur in zweifacher Hinsicht ab. Die Kästen derjenigen Abgeordneten, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, sind mit einem schwarzen Streifen als "Opfer des Nationalsozialismus " gekennzeichnet, und in der Mitte des Ganges repräsentiert eine einzelne schwarze Box die Jahre von 1933 bis 1945, als das deutsche Volk durch kein demokratisch legitimiertes Parlament vertreten war.
Christian Boltanski wandte sich in seinen Installationen zunächst der Spurensicherung der eigenen Kindheit sowie den Lebensspuren fremder Personen zu. Später "rekonstruierte" er auch fiktive Lebensläufe mithilfe großformatiger, grobkörniger Schwarz-Weiß-Fotos. So entstanden Wandtafeln mit Porträtfotos - meist von Kindern, die anonym bleiben. Diese Porträttafeln arrangierte Boltanski mit Glühbirnen und Lampen zu Erinnerungsaltären, die zum Sinnbild der Vergänglichkeit werden. In der Gegenüberstellung von vergangenem Leben und gegenwärtiger Erinnerung, in der Heraushebung des menschlich Durchschnittlichen und Allgemeinen wird - besonders durch die Anonymität der Dargestellten - das Leben in seiner Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit im Angesicht der Zeit manifest. Mit der Installation "Archiv der Deutschen Abgeordneten" hat Boltanski diesen gedanklichen Ansatz auf das Reichstagsgebäude bezogen modifiziert. Jeder der Abgeordneten ist durch das Namensschild als historische Person zu identifizieren, aber die gleichförmige Reihung stellt die Bedeutung des sozialen Gefüges als ein Gesamtkörper auch im Wandel der Generationen in den Vordergrund.
geboren 1944 in Paris, lebt und arbeitet in Malakoff bei Paris.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages