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Der israelische Staatspräsident Shimon Peres hat die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel als "einzigartig" bezeichnet. In der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus sagte Peres am Mittwoch, 27. Januar 2010, diese Freundschaft führe aber nicht dazu, "dass wir die Shoa vergessen". Vielmehr sei man sich "der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte", bewusst - auch angesichts der "gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten - zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt".
Vor 65 Jahren, am 27. Januar 1945, hatten Truppen der sowjetischen Roten Armee das deutsche Konzentrationslager Auschwitz westlich von Krakau befreit. Seit 1996 ist der 27. Januar ein nationaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Im Bundestag findet dazu alljährlich eine Gedenkstunde statt.
Neben dem israelischen Staatspräsidenten sprachen der polnische Historiker Professor Dr. Feliks Tych, Zeitzeuge des Jahrgangs 1929, und Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zu den Abgeordneten und geladenen Ehrengästen. An der Gedenkstunde im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes nahmen auch Bundespräsident Professor Horst Köhler, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Bundesratspräsident Jens Böhrnsen und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, teil.
Die Zahl der Shoa-Überlebenden nehme ab, während immer noch Täter von damals lebten. Peres‘ Appell: "Tun Sie alles, um diesen Verbrechern ihre gerechte Strafe zu erteilen." Zugleich wandte er sich an die jüngere Generation, die in einer "Stunde der Gnade" lebe.
Die Jugend dürfe sich nie andere Ziele setzen als "Frieden, Versöhnung und Liebe". Die junge Generation müsse lernen, jede Kultur und die universellen Werte zu respektieren: "Die Zehn Gebote müssen stets neu gedruckt werden." Die bedeutendste aller Lehren laute "Nie wieder".
"Die Drohungen, unser Volk und unseren Staat zu zerstören, werden im Schatten von Massenvernichtungswaffen ausgestoßen, die im Besitz irrationaler Menschen sind, die nicht zurechnungsfähig sind und die nicht die Wahrheit sprechen", sagte Peres.
Er erzählte von seinem Großvater Rabbi Zwi Meltzer in Wiszniewo im heutigen Weißrussland. Als Elfjähriger verließ Peres seine Heimat, um ins Heilige Land zu gehen, während der Großvater zurückblieb. "Als die Nazis in Wiszniewo einmarschierten, befahlen sie allen Juden, sich in der Synagoge zu versammeln. Mein Großvater ging als Erster hinein ... Seine Familie folgte ihm. Die Türen wurden von außen verriegelt, und das Holzgebäude wurde angezündet. Von der Gemeinde blieben nur glühende Asche und Rauch."
Er sei stolz darauf, dass der Staat Israel erstanden ist, die "moralische und historische Antwort auf den Versuch, das jüdische Volk von der Erde zu tilgen". Auch an den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erinnerte der Gast und nannte die Namen Albert Einstein, Sigmund Freud, Martin Buber, Karl Marx, Hermann Cohen, Hannah Arendt, Heinrich Heine, Moses Mendelssohn, Rosa Luxemburg, Walter Rathenau, Stefan Zweig und Walter Benjamin.
Peres würdigte die Verdienste von Bundeskanzler Konrad Adenauer und des israelischen Staatsgründers David Ben-Gurion in der Nachkriegszeit. Die Reparationen aus Deutschland hätten Israel aus seiner Notlage geholfen und einen wesentlichen Beitrag zur schnellen Entwicklung des Landes geleistet.
"Wir waren und sind der Überzeugung, dass das neue Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit der jüdische Staat sich nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss", sagte Peres. Er rechne es Bundespräsident Köhler hoch an, dass dieser vor der Knesset, dem israelischen Parlament, erklärt habe: "Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität."
Auch die "bewegenden Worte unverbrüchlicher Unterstützung" von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem US-Kongress "werden wir niemals vergessen". Merkel habe gesagt, dass ein Angriff auf Israel einem Angriff auf Deutschland gleichkomme.
Israel wolle in Frieden mit seinen Nachbarn leben, so der Präsident weiter. Die Palästinenser sollten einen eigenen unabhängigen, gedeihenden und friedliebenden Staat errichten.
Israel solidarisiere sich mit den Millionen Iranern, die gegen die Diktatur und Gewalt rebellierten. "Genau wie sie lehnen wir ein fanatisches Regime ab, das die Charta der Vereinten Nationen missachtet. Ein Regime, das mit Zerstörung droht und Atomkraftwerke und Nuklearraketen besitzt, mit denen es sein eigenes Land wie auch andere Länder terrorisiert." Ein solches Regime sei eine Gefahr für die ganze Welt, sagte Peres.
Mit Blick auf die Europäische Union fuhr der Präsident fort: "Wir können viel aus Ihrer Erfahrung lernen und möchten von einem Nahen Osten träumen, in dem alle Länder bereit sind, den Konflikt ihrer Eltern gegen den Frieden für ihre Nachkommen einzutauschen."
Er schloss mit den Worten: "Wir wagen den Traum, und ich bin überzeugt, Sie wagen ihn mit uns: Gemeinsam werden wir diesen Traum auch verwirklichen." Die Zuhörer erhoben sich nach der Rede des Präsidenten von ihren Plätzen und dankten mit lang anhaltendem Beifall.
Professor Feliks Tych erzählte seine eigenen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Sein Vater hatte in Radomsko 60 Kilometer von der deutschen Grenze eine kleine Fabrik beessen. "Am dritten Kriegstag rückte die Wehrmacht ein." Am 20. Dezember 1939 habe die jüdische Bevölkerung in einen Teil der Stadt umziehen müssen, der fortan Getto hieß.
Im September 1942 seien Gerüchte umgegangen, es stünde eine große Aktion bevor. Die Eltern beschlossen, ihn, den Jüngsten, zur älteren Schwester nach Warschau zu schicken. "Als ich mich von meinen Eltern verabschiedete, dachte ich keinen Moment daran, dass ich sie zum letzten Mal sehen könnte."
Tych berichtete von Wanda Koszutska, einer Frau in Warschau, die den Jungen aufnahm. Am 9. und 12. Oktober deportierte die SS die Gettobewohner von Radomsko ins Vernichtungslager Treblinka: "So starben meine Eltern, mein ältester Bruder, seine Frau und ihr vierjähriges Kind und meine Schwester mit einem dreijährigen Kind. Ihr Mann war schon früher als politischer Häftling in Auschwitz umgekommen; dort starben auch meine älteste Schwester, ihr Mann und ihre siebenjährige Tochter." Einen anderen erwachsenen Bruder habe die Gestapo im Herbst 1943 in den Ruinen des Warschauer Gettos erschossen.
Für Tych hat die "Walze des Holocausts" unverkennbare Spuren hinterlassen. Die moralischen Normen großer Bevölkerungsgruppen seien bedenklich deformiert worden. "Der Holocaust hat in Teilen der Bevölkerung die niedrigsten Instinkte freigesetzt und sie in der Überzeugung bestärkt, dass man Juden immer ungestraft ermorden könne."
In den ersten 50 Jahren nach dem Holocaust sei dieser fast ausschließlich als deutscher Völkermord wahrgenommen worden, "was für eine Reihe von Ländern sehr bequem war". Es sei längst kein Geheimnis mehr, dass fast in jedem europäischen Land, in dem die Nazis Juden verfolgten, "ein Teil der einheimischen Bevölkerung so oder anders in den Völkermord verwickelt war".
"Nichts kann das Dritte Reich von der Verantwortung für den Holocaust freisprechen", sagte Tych. "Aber es gibt auch keinen Grund, die Regierungen Ungarns, Rumäniens, der Slowakei, Bulgariens oder Kroatiens, die diese Gesetze nachahmten, in der Erzählung über den Holocaust auszusparen."
Die Rezeption des Holocausts bleibe unvollständig und verzerrt, solange "eine europäische Komplizenschaft" beim deutschen Staatsverbrechern nicht Bestandteil des europäischen historischen Bewusstseins geworden sei. Auch nach Tychs Rede erhoben sich die Zuhörer von den Plätzen und zollten lang anhaltenden Beifall.
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hatte eingangs darauf hingewiesen, dass Anfang Mai in Berlin die Dokumentationsstätte "Topographie des Terrors" eröffnet wird. In Auschwitz seien in fünf Jahren mehr als eine Million Menschen ermordet worden.
"Wir gedenken aller Opfer, die in die Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes gerieten. Wir gedenken aller, die um ihre Würde, ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut, gar ihr Leben gebraucht wurden: Europäische Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Künstler, Wissenschaftler, alle, die als so genannte 'Feinde des Nationalsozialismus' herabgewürdigt wurden", sagte der Lammert.
Erinnert werde auch an diejenigen, die deshalb inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.
Weiter unterstrich der Präsident: "Und wir erneuern unser Versprechen, dass wir das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen. Wir wissen um die Verpflichtung, jede Form von Hass, Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus entschieden zu bekämpfen."
Die Beziehungen zu Israel blieben immer von der Erfahrung des Holocausts geprägt. Israel sei auf der Asche des Holocausts gegründet, für die zweite Demokratie in Deutschland gehöre die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu den "Grundlagen unserer Verfassung". Die Deutschen trügen eine Mitverantwortung für den Staat Israel.
"Wir Deutsche haben für die Existenz und die Sicherheit Israels eine historisch begründete besondere Verantwortung. Mansches ist verhandelbar, das Existenzrecht Israels nicht", betonte der Präsident. "Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft, geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden", sagte er unter Beifall.
Beeindruckend sei, das jüdisches Leben nach Deutschland zurückgekehrt ist: "Wir sind dankbar für jede junge Pflanze wieder erwachenden jüdischen Lebens, jüdischer Kultur", sagte Lammert.
Die Gedenkveranstaltung schloss mit dem Musikstück "Kaddish" von Maurice Ravel, vorgetragen von Daniel Hope auf der Violine.